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Calculating...

Okay, also, wo fange ich da an? Also, es geht um 'n Typen, Jason Kay, vierzehn, obdachlos in irgendeiner amerikanischen Großstadt. Schüchtern, Einzelgänger, aber clever. Sein Vater wurde umgebracht, seine Mutter ist abhängig. Er wächst alleine auf. Manchmal pennt er auf 'ner Couch bei Freunden, meistens auf der Straße. Oft hungrig in der Schule, schafft's gerade mal in die neunte Klasse. Eines Tages, so 2010, lässt er sich von 'ner Drogenbande überreden, die Schule zu schwänzen und Drogen zu verkaufen. Ein paar Wochen später, am Abend vor seinem fünfzehnten Geburtstag, wird er bei 'ner Schießerei erschossen. Er hatte keine Waffe dabei.

Jetzt mal angenommen... Stell dir vor, wir spinnen das mal weiter. Was wäre, wenn... Okay, pass auf:

1. Jasons Vater wäre nicht gestorben.
2. Jason hätte 'ne Waffe gehabt und sich verteidigen können.
3. Es gäbe 'n Bundesgesetz, das obdachlosen Kindern kostenloses Frühstück und Mittagessen garantiert. Jason würde nicht hungrig sein und Drogen verkaufen gehen.
4. Ein Anwalt, der die Bücher von Amos Tversky und Daniel Kahneman gelesen hat, fängt 2009 beim Bund an. Er setzt aufgrund der Theorien von Amos und Daniel 'ne Systemänderung durch, damit obdachlose Kinder nicht mehr an Schulessenprogrammen teilnehmen müssen, sondern direkt kostenloses Essen bekommen. Jason würde nicht aus Hunger die Schule schwänzen.

Wenn du jetzt sagst, Option vier ist wahrscheinlicher als Option drei, dann verstößt du wahrscheinlich gegen 'ne ganz grundlegende Regel der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Aber, und jetzt kommt's, du hast ein Schlüsselwort erkannt: Anwalt. Der Typ heißt Cass Sunstein. Genau.

Die Forschung von Amos und Daniel, die hatte echt 'nen riesigen Einfluss. Vor allem haben sie Wirtschaftswissenschaftlern und Politikern gezeigt, wie wichtig Psychologie ist. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Peter Diamond hat das so gesagt: "Ich bin ein Anhänger geworden. Ihre Schlussfolgerungen stimmen. Und das ist nicht im Labor entstanden, sondern durch die Analyse der Realität. Das hat die Wirtschaftswissenschaften echt beeinflusst. Ich hab Jahre darüber nachgedacht, wie ich das anwenden kann, aber es hat nie so richtig geklappt."

In den Neunzigern dachten viele, Ökonomen und Psychologen müssten sich austauschen, sich besser verstehen. Aber, tja, die beiden Lager, die waren da nicht so begeistert voneinander. Die Ökonomen waren stur, die Psychologen misstrauisch. Der Psychologe Dan Gilbert meinte mal: "Normalerweise unterbrechen Psychologen nur, wenn sie was klären wollen, Ökonomen aber, um zu zeigen, wie schlau sie sind." Und der Ökonom George Loewenstein sagte: "In der Wirtschaftswissenschaft ist ein rauer Ton ganz normal. Wir haben mal versucht, 'ne interdisziplinäre Konferenz zu organisieren. Nach der ersten Sitzung sind die Psychologen geflohen, und das war's dann." In den Neunzigern hat dann Steven Sloman, ein ehemaliger Student von Amos, 'ne Konferenz in Frankreich organisiert, mit gleich vielen Psychologen und Ökonomen. Sloman meinte: "Ich schwöre, ich hab fast dreiviertel der Zeit damit verbracht, die Ökonomen zum Schweigen zu bringen." Und die Sozialpsychologin Amy Cuddy von Harvard sagte: "Das Problem ist, die mochten sich nicht. Psychologen fanden Ökonomen unmoralisch, Ökonomen hielten Psychologen für dumm." Krass, oder?

In diesem akademischen Krieg, den Daniel und Amos da angezettelt haben, hat Amos so 'ne Art Stratege gespielt. Er hat die Ökonomen zumindest teilweise verstanden. Seine Ideen, die waren oft im Widerspruch zu psychologischen Vorstellungen. Er mochte es nicht, Emotionen zu erforschen, aber er war interessiert an unbewusstem Denken, allerdings nur, um zu beweisen, dass es das nicht gibt. Er war wie so'n Typ im gestreiften Hemd, der sich in 'ne Welt verirrt hat, in der es nur Karos und Punkte gibt. Wie die Ökonomen mochte er klare Modelle, er mochte nicht dieses Gefühl, nicht zu wissen, was die nächste Schokolade ist, die man isst. Und wie die Ökonomen fand er 'nen rauen Umgangston ganz normal. Außerdem hatte er, genau wie die Ökonomen, das Ziel, seine Theorien zu verbreiten. Die Wirtschaftswissenschaften, die haben ja schon Finanzwesen, Wirtschaft, Politik beeinflusst, die Psychologie aber noch gar nicht. Das musste sich ändern.

Daniel und Amos, die waren sich einig, dass es nichts bringt, die Psychologie in die Wirtschaftswissenschaften einzuschleusen. Die Ökonomen, die würden keine Eindringlinge dulden. Was man brauchte, das war 'ne neue Generation von jungen Wirtschaftswissenschaftlern, die sich für Psychologie interessieren. Und wie es der Zufall so wollte, haben sie die auch gefunden, kaum waren sie in Nordamerika angekommen. George Loewenstein war einer von denen. Er war in Wirtschaftswissenschaft ausgebildet, aber die Art und Weise, wie die Psychologie die ökonomischen Modelle zerlegt hat, das hat ihn an seinem Fach zweifeln lassen. Nachdem er die Bücher von Amos und Daniel gelesen hatte, dachte Loewenstein sich: Moment mal, vielleicht sollte ich ja Psychologie studieren! Zufälligerweise war sein Urgroßvater Sigmund Freud. "Ich wollte mich immer von meinem familiären Hintergrund distanzieren", sagte Loewenstein, "aber ich hab festgestellt, dass ich noch nie 'ne Vorlesung besucht habe, die mich wirklich interessiert hat." Er hat sich dann an Amos gewandt, um sich Rat zu holen, ob er von Wirtschaftswissenschaften zur Psychologie wechseln sollte. "Amos sagte: 'Du solltest weiter Wirtschaftswissenschaften studieren, wir brauchen dich da drüben.' Das war 1982, und er wusste schon, dass er 'ne neue Ära einleiten würde. Er brauchte jemanden, der ihn in der Wirtschaftswissenschaft unterstützt."

Dieser Streit zwischen Psychologie und Wirtschaftswissenschaften, der von Daniel und Amos ausging, der hat dann auch Rechtswissenschaften und die öffentliche Verwaltung erreicht. Die Wirtschaftswissenschaften wurden zu so 'ner Art Türöffner für die Psychologie in diesen Bereichen. Richard Thaler war der erste Ökonom, der zufällig über die Forschung von Daniel und Amos gestolpert ist. Danach hat er sich nur noch damit beschäftigt, wie psychologische Theorien die Wirtschaftswissenschaften beeinflussen, und er hat auch 'n neues Fachgebiet mitbegründet, die Verhaltensökonomie. Die "Prospect Theory", die wurde in den ersten zehn Jahren kaum zitiert, aber 2010 war sie dann das zweithäufigste Schlagwort in wirtschaftswissenschaftlichen Fachzeitschriften. Thaler sagte: "Manche wollen es immer noch nicht akzeptieren, die alten Wirtschaftswissenschaftler, die haben ihre Meinung nie geändert." 2016 enthielt etwa jede zehnte veröffentlichte wirtschaftswissenschaftliche Arbeit 'ne verhaltensökonomische Perspektive. Das bedeutet, dass die Forschung von Daniel und Amos zumindest in den Zitaten auftaucht.

Und Cass Sunstein, der war am Anfang noch 'n junger Rechtsprofessor an der Universität von Chicago, als Thaler da seine Werbetrommel für die Psychologie rührte. Er hat zufällig Thalers Artikel "Positive Strategies for Dealing with Consumer Choices" gelesen (er wollte ihn eigentlich "Dinge, die Leute so für 'ne Scheiße bauen" nennen). Und mithilfe der Quellenangaben in dem Artikel hat Sunstein dann auch den Artikel von Daniel und Amos in der Zeitschrift "Science" gefunden, in dem sie die "Prospect Theory" vorgestellt haben. "Für 'nen Juristen waren beide Artikel schwer zu verstehen", sagte Sunstein, "ich hab sie mehr als einmal gelesen, aber ich erinnere mich noch genau an das Gefühl beim ersten Lesen: Es war, als würden in meinem Kopf Glühbirnen explodieren. Nachdem ich das gelesen hatte, wurden einige Ideen, die ich vorher hatte, plötzlich klar. Das war echt aufregend." 2009 wurde Sunstein dann von Präsident Obama ins Büro für Information und Regulierungsangelegenheiten des Weißen Hauses berufen. Seine Aufgabe war es, die staatlichen Regulierungen zu überprüfen.

Sunsteins Arbeit wurde mehr oder weniger von den Forschungsergebnissen von Daniel und Amos beeinflusst. Man kann jetzt nicht sagen, dass Präsident Obama wegen Daniel und Amos ein Verbot für Bundesangestellte erlassen hat, während der Fahrt Textnachrichten zu schreiben, aber zumindest gibt es da 'nen Zusammenhang. Inzwischen reagiert die Bundesregierung sehr sensibel auf Verlustaversion und Framing-Effekte, weil die Leute ja nicht die Dinge selbst auswählen, sondern die Art und Weise, wie sie beschrieben werden. Früher stand in den Broschüren für neue Autos nur, wie viele Meilen man mit einer Gallone Benzin fahren konnte, jetzt steht da stattdessen, wie viel Benzin man pro 100 Meilen verbraucht. Früher haben sich die Amerikaner bei der Ernährung an der Lebensmittelpyramide orientiert, jetzt an "MyPlate" – einem Teller, der in fünf Bereiche unterteilt ist, wobei jeder Bereich für eine bestimmte Lebensmittelgruppe steht. Mithilfe solcher Bilder haben die Leute plötzlich gemerkt, dass eine ausgewogene Ernährung gar nicht so kompliziert sein muss. Es gibt da unzählige Beispiele. Sunstein hat auch vorgeschlagen, dass die Bundesregierung zusätzlich zum Rat der Wirtschaftsberater noch einen Rat der Psychologieberater einrichten sollte. Dieser Vorschlag wurde von einigen Leuten unterstützt. Als Sunstein 2015 das Weiße Haus verlassen hat, war die Bedeutung der Psychologen, oder zumindest die Bedeutung psychologischer Ideen, in den Regierungen vieler Länder auf der ganzen Welt anerkannt.

Sunstein hat sich vor allem für das Thema "Choice Architecture" interessiert. Die Entscheidungen, die Menschen treffen, hängen davon ab, wie diese Entscheidungen präsentiert werden. Manchmal wissen die Leute gar nicht, was sie wollen, deshalb holen sie sich irgendwelche Hinweise aus dem Hintergrund. Sie "framen" ihre Präferenzen. Dabei wählen sie den einfachsten Weg, auch wenn dieser Weg sie teuer zu stehen kommt. Im 21. Jahrhundert mussten Millionen von Mitarbeitern in Unternehmen und Behörden in den USA nicht mehr 'nen Antrag stellen, um an 'ner Altersvorsorge teilzunehmen, sondern sie wurden automatisch in dieses Programm aufgenommen. Sie haben vielleicht gar nicht gemerkt, dass diese kleine Änderung dazu geführt hat, dass fast 30 % mehr Leute an 'ner Altersvorsorge teilgenommen haben. Das ist die Macht der "Choice Architecture". Nachdem Sunstein in die US-Regierung eingetreten war, hat er viele Anpassungen an der "Choice Architecture" vorgenommen, unter anderem, damit obdachlose Kinder kostenloses Schulessen bekommen können. In dem Schuljahr, nachdem er das Weiße Haus verlassen hatte, konnten über 40 % mehr Schüler kostenloses Essen bekommen als vor der Reform. Vor der Reform mussten sich diese Kinder selbst oder die Erwachsenen, die sich für sie eingesetzt haben, darum kümmern.

Sogar in Kanada, da konnte Don Redelmeier immer noch Amos hören. Er war schon seit Jahren von Stanford zurück, aber Amos' Stimme war so klar und laut, dass er oft vergessen hat, auf seine eigene Stimme zu hören. Irgendwann hat Redelmeier dann gemerkt, dass er an der Arbeit, die er mit Amos gemacht hat, auch seinen Anteil hatte – nicht nur Amos. Er hat seinen Wert erkannt, als es um 'ne ganz einfache Frage ging: Obdachlose. Diese Gruppe belastet das lokale Gesundheitssystem extrem. Egal, ob es nötig ist oder nicht, die sind ständig in der Notaufnahme und verbrauchen da Ressourcen. Die Krankenschwestern in jedem Krankenhaus in Toronto wussten: Wenn man die im Krankenhaus rumlungern sieht, muss man die sofort rausschmeißen. Redelmeier fand das nicht so gut.

Deshalb hat er 1991 ein Experiment gemacht. Er hat 'ne Gruppe von Studenten rekrutiert, die sich für Medizin interessieren, und er hat dafür gesorgt, dass sie im Krankenhaus hospitieren können. Und er hat ihnen 'n Aufenthaltsraum vor der Notaufnahme eingerichtet. Wenn 'n Obdachloser in die Notaufnahme kam, mussten sich diese Studenten um ihn kümmern, ihm Saft bringen, Essen holen, sich mit ihm unterhalten, ihm helfen, seine Medikamente zu besorgen. Die Studenten haben das alles freiwillig gemacht, aber sie waren total begeistert, weil sie mal Arzt spielen konnten. Allerdings, so war Redelmeiers Plan, sollte nur die Hälfte der Obdachlosen, die ins Krankenhaus kamen, diese Behandlung bekommen, die andere Hälfte sollte von den Krankenschwestern abgefertigt werden. Nach dem Experiment hat Redelmeier die Leute weiter beobachtet, um zu sehen, ob sich ihr Verhalten bei der Nutzung des Gesundheitssystems in Toronto geändert hat. Wie erwartet, sind die Obdachlosen, die diese gute Betreuung bekommen hatten, etwas häufiger in dieses Krankenhaus gekommen als die andere Gruppe. Aber überraschenderweise sind sie seltener in andere, bessere Krankenhäuser gegangen. Wenn sie das Gefühl hatten, in diesem Krankenhaus gut aufgehoben zu sein, haben sie kein anderes Krankenhaus mehr aufgesucht. Sie sagten: "Das ist die beste Behandlung, die ich bekommen kann." Der schlechte Umgang mit Obdachlosen hat das gesamte Gesundheitswesen in Toronto teuer zu stehen bekommen.

Gute Wissenschaft, das bedeutet nicht nur, das zu sehen, was andere schon gesehen haben, sondern auch, über das nachzudenken, was andere noch nicht gesagt haben. Dieser Satz von Amos, der hat sich bei Redelmeier eingebrannt. Mitte der Neunziger hat Redelmeier dieses Prinzip auf beeindruckende Weise in die Tat umgesetzt. Eines Tages hat er 'nen Anruf von 'nem HIV-Patienten bekommen, der sagte, er habe Nebenwirkungen von den Medikamenten. Mitten im Gespräch hat der Patient ihn unterbrochen und gesagt: "Tut mir leid, Dr. Redelmeier, ich muss auflegen, es gab 'nen Unfall." Der Typ hat also während der Fahrt telefoniert. Redelmeier dachte sich, ob das Telefonieren beim Fahren das Unfallrisiko erhöht?

1993 hat er dann mit dem Statistiker Robert Tibshirani von der Cornell University 'ne komplizierte Studie durchgeführt, um diese Frage zu beantworten. 1997 haben sie ihre Ergebnisse veröffentlicht: Telefonieren am Steuer ist genauso riskant wie Trunkenheit am Steuer. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der während der Fahrt telefoniert, 'nen Unfall baut, ist viermal so hoch wie bei jemandem, der nicht telefoniert, egal, ob er das Telefon in der Hand hält oder nicht. Sie haben als Erste den Zusammenhang zwischen Mobiltelefonen und Verkehrsunfällen aufgezeigt und damit zu weiteren Verbesserungen der Verkehrsregeln auf der ganzen Welt beigetragen. Um zu wissen, wie viele Menschen dadurch gerettet wurden, müsste man wahrscheinlich noch 'ne kompliziertere Studie durchführen.

Danach hat sich Redelmeier dann für die Denkprozesse der Autofahrer interessiert. Die Ärzte im Trauma-Zentrum des Sunnybrook Hospital waren der Meinung, dass ihre Arbeit erst dann beginnt, wenn die Verletzten von der Autobahn 401 in die Notaufnahme gebracht werden. Aber Redelmeier fand, dass die medizinische Versorgung bei den Ursachen der Erkrankung beginnen sollte, sonst sei das nicht sinnvoll. Weltweit sterben jedes Jahr 1,2 Millionen Menschen bei Verkehrsunfällen, und noch viel mehr werden dadurch behindert. Redelmeier sagte: "1,2 Millionen weltweit, das ist, als würde es in Japan jeden Tag 'nen Tsunami geben. Wenn wir 100 Jahre zurückgehen, hätte es so viele Tote und Verletzte bei Verkehrsunfällen nicht gegeben." Wenn man am Steuer sitzt, können Fehlentscheidungen unwiderrufliche Folgen haben – das hat Redelmeier fasziniert. Das menschliche Gehirn hat seine Grenzen, und unsere Aufmerksamkeit hat Lücken. Das Gehirn überdeckt diese Lücken, damit wir sie nicht sehen. Wir glauben, wir wissen, aber wir wissen es nicht. Wir glauben, wir sind sicher, aber wir sind es nicht. "Das war eines der Themen, die Amos am meisten beschäftigt haben", sagte Redelmeier, "nicht, weil die Leute falsch denken. Nein, nicht wirklich. Die Leute machen Fehler. Der eigentliche Grund ist, dass die Leute nicht wissen, wie sehr sie sich irren. 'Ich hab drei, vier Gläser getrunken, wahrscheinlich bin ich zu 5 % beeinträchtigt.' Stimmt nicht! Du bist wahrscheinlich zu 30 % beeinträchtigt. Diese Fehleinschätzung ist die Ursache für 10.000 tödliche Verkehrsunfälle pro Jahr in den USA."

Die Welt zu verändern ist manchmal einfacher, als zu beweisen, dass man die Welt verändert hat. Das hat Amos auch gesagt. "Amos hat uns immer daran erinnert, die Fehler der Menschen zu akzeptieren", sagte Redelmeier. Obwohl man es nicht beweisen kann, hat Amos die Welt auf diese Weise verändert. Seine Gedanken sind in Redelmeiers Forschung eingeflossen. Amos hatte auch den Artikel über das erhöhte Unfallrisiko beim Telefonieren am Steuer gelesen und kommentiert. Und während er diesen Artikel fertiggestellt hat, hat Redelmeier am Telefon erfahren, dass Amos gestorben ist.

Amos hat nur sehr wenigen Leuten von seiner Krankheit erzählt, und er hat diesen Leuten auch gesagt, sie sollen nicht zu viel darüber reden. Er hat die Nachricht im Februar 1996 von seinem Arzt bekommen, und von da an hat er in der Vergangenheit über sein Leben gesprochen. "Er hat mich angerufen und gesagt, dass die Ärzte ihm gesagt haben, dass er nicht mehr lange leben wird", sagte Avishai Margalit. "Ich hab ihn besucht, und er hat mich vom Flughafen abgeholt. Auf dem Rückweg nach Palo Alto haben wir am Straßenrand angehalten, die Landschaft betrachtet und uns über Leben und Tod unterhalten. Er fand es gut, schon früh zu wissen, dass der Tod kommt. Er wirkte dabei so unbeteiligt, als würde er über jemand anderen sprechen, nicht über sich selbst. Das war schon überraschend. Er sagte: 'Das Leben ist wie ein Buch, es ist egal, ob es dick oder dünn ist, wichtig ist, dass der Inhalt gut ist.'" Amos schien der Meinung zu sein, dass ein früher Tod vielleicht der Preis ist, den er als Spartaner zahlen muss.

Im Mai hat Amos an der Stanford University seine letzte Vorlesung gehalten, über statistische Fehler im Profi-Basketball. Craig Fox, sein ehemaliger Doktorand und Partner, hat ihn gefragt, ob er die Vorlesung aufnehmen soll. "Er hat 'ne Weile nachgedacht und gesagt: 'Nein, lieber nicht'", erinnerte sich Fox. Amos hat wie immer weitergelebt, sogar die Gespräche mit den Leuten um ihn herum waren wie immer. Der einzige Unterschied war, dass er angefangen hat, über seine Kriegserlebnisse zu sprechen. Er hat Varda Lieberman erzählt, wie er 'nen bewusstlosen Soldaten von 'nem Sprengstofffass gerettet hat. Lieberman sagte: "Er glaubte, dass dieses Ereignis sein Leben irgendwie beeinflusst hat. Er sagte: 'Seitdem hatte ich das Gefühl, dass ich das Image eines Helden aufrechterhalten muss. Weil ich mal 'n Held war, muss ich mich immer anstrengen, den Standard eines Helden zu erreichen.'"

Die meisten Leute, die mit Amos zu tun hatten, haben nicht bemerkt, dass er schwer krank war. Ein Doktorand hat Amos gefragt, ob er sein Doktorvater werden kann. Amos hat nur geantwortet, dass er "in den nächsten Jahren sehr beschäftigt sein wird", und hat den Studenten dann nach Hause geschickt. Ein paar Wochen vor seinem Tod hat er seinen alten Freund Yeshayahu Kloc telefoniert. Kloc erinnerte sich: "Seine Stimme klang sehr ungeduldig, das war sie noch nie gewesen. Er sagte: 'Hör zu, Yeshayahu, ich werde sterben. Ich finde das nicht tragisch, aber ich will mit niemandem reden. Bitte sag unseren Freunden, sie sollen nicht anrufen und mich nicht besuchen.'" Er hat Varda Lieberman aber weiterhin besucht – die beiden haben an 'nem Lehrbuch gearbeitet. Und Gerhard Casper, der Rektor der Stanford University, durfte ihn auch besuchen, weil Amos gehört hatte, dass die Stanford University eine Reihe von Veranstaltungen und Konferenzen in seinem Namen plant, um ihm zu gedenken. Lieberman erinnerte sich: "Amos sagte zu Casper: 'Du kannst machen, was du willst, aber ich bitte dich, veranstalte keine Konferenzen in meinem Namen, lass nicht 'ne Gruppe von mittelmäßigen Leuten mit ihren Artikeln daherkommen und behaupten, sie hätten was mit mir zu tun. Graviere meinen Namen in 'n Gebäude, lass ihn im Raum stehen oder gravier ihn in 'ne Bank, aber bitte lass ihn auf festen Dingen stehen.'"

Er hat fast keine Anrufe mehr entgegengenommen. Nur einmal, da hat er den Anruf des Ökonomen Peter Diamond entgegengenommen. "Ich hab gehört, dass er schwer krank ist", sagte Diamond, "und ich wusste, dass er keine Anrufe entgegennimmt. Aber ich hatte gerade den Bericht für das Nobelpreiskomitee fertiggestellt." Diamond wollte Amos mitteilen, dass er einer der wenigen Nominierten für den Wirtschaftsnobelpreis in diesem Jahr ist. Aber der Nobelpreis wird nur an lebende Wissenschaftler verliehen. Diamond konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie Amos reagiert hat, aber Varda Lieberman war damals bei Amos. "Danke, dass du mir das sagst", hat sie Amos sagen hören, "du kannst sicher sein, dass ich den Nobelpreis nicht verpassen werde."

Die letzte Woche seines Lebens hat er zu Hause verbracht. Bei ihm waren nur seine Frau und seine Kinder. Er hatte Medikamente, mit denen er sein Leben beenden konnte, wenn er es nicht mehr aushalten konnte. Das hat er seinen Kindern auch schon mal angedeutet. ("Was haltet ihr von Sterbehilfe?", hat er seinen Sohn Tal mal so nebenbei gefragt.) In den letzten Tagen sind seine Lippen blau geworden und sein Körper ist angeschwollen, aber er hat keine Schmerzmittel genommen. Am 29. Mai fanden in Israel die Wahlen zum Ministerpräsidenten statt, bei denen der Hardliner Benjamin Netanjahu Schimon Peres besiegte. "Es sieht so aus, als würde ich in meinem Leben keinen Frieden mehr sehen", war Amos' erste Reaktion, "aber ich hatte auch nie erwartet, dass ich in meinem Leben Frieden sehen werde." In der Nacht zum 1. Juni hörten die Kinder Geräusche und Stimmen aus dem Zimmer ihres Vaters. Vielleicht hat er wieder mit sich selbst gesprochen, wieder nachgedacht. Am Morgen des 2. Juni 1996, als Amos' Sohn Oren wieder in das Zimmer seines Vaters ging, fand er ihn tot vor.

Seine Beerdigung, die wirkte irgendwie unwirklich. Die Leute, die an der Beerdigung teilgenommen haben, die konnten sich viele verschiedene Enden vorstellen, aber sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass Amos nicht mehr da war. "Ich konnte nicht glauben, dass er wirklich tot ist", sagte sein Freund Paul Slovic. Als Daniel in der Menge auftauchte und langsam nach vorne ging, waren die Kollegen von Amos an der Stanford University geschockt. Er wirkte wie 'n Geist aus 'ner fernen Vergangenheit. "Er sah geistesabwesend und sogar ein bisschen erschrocken aus", erinnerte sich Avishai Margalit, "es war, als wäre er bei 'ner Sache unterbrochen worden, bevor er sie beendet hatte." Alle Leute waren in schwarzen Anzügen, Daniel aber in 'nem Hemd – so wie es bei israelischen Beerdigungen üblich ist. Das hat alle überrascht: Es war, als hätte Daniel vergessen, wo er war. Aber alle waren sich einig, dass Daniel die Trauerrede halten sollte. "Es war klar, dass er der Richtige ist", sagte Margalit.

Die letzten Gespräche der beiden, die drehten sich hauptsächlich um ihre Arbeit, aber nicht nur. Amos hatte Daniel noch was zu sagen. Amos hat Daniel gesagt, dass niemand ihm so viel Schmerz bereitet hat wie er. Daniel hat sich nicht getraut zu antworten, er hatte Angst, dass er sonst zusammenbrechen würde. Amos hat auch gesagt, dass Daniel auch am Ende noch der Mensch ist, mit dem er am liebsten geredet hat. "Er sagte, er könne sich beim Gespräch mit mir am besten entspannen, weil ich keine Angst vor dem Tod habe", erinnerte sich Daniel, "er kannte mich, ich würde keine Angst haben, wenn der Tod mich holen würde."

In den letzten Tagen von Amos' Leben hat Daniel fast jeden Tag mit ihm gesprochen. Als Amos sagte, dass er so leben will wie immer und kein Interesse mehr an neuen Dingen hat, hat Daniel ihn verwundert gefragt, warum. "Wie soll ich denn leben? Nach Bora Bora?", hat Amos geantwortet. Seitdem hat Daniel nie wieder daran gedacht, nach Bora Bora zu fahren. Immer wenn er an diesen Ort denkt, überkommt ihn so 'ne Unruhe. Daniel hat auch vorgeschlagen, dass die beiden was zusammen schreiben – 'n Vorwort für ihre Aufsatzsammlung. Aber bevor sie damit fertig waren, ist Amos gestorben. Beim letzten Gespräch hat Daniel Amos gesagt, dass er Angst hat, dass Amos mit einigen Dingen nicht einverstanden sein wird, weil ja sein Name draufsteht. "Ich sagte: 'Ich bin mir nicht sicher, was ich als Nächstes tun soll'", sagte Daniel. "Er hat mir gesagt: 'Du weißt genau, wie ich es schreiben würde, schreib es so.'"

Daniel hatte sich damals für die Princeton University entschieden, um von Amos wegzukommen, und danach hat er Princeton nie wieder verlassen. Nach Amos' Tod hat sein Telefon plötzlich viel öfter geklingelt. Amos war zwar nicht mehr da, aber ihre Forschungsergebnisse waren noch da, und sie wurden immer mehr beachtet. Von den beiden wurde nicht mehr als "Tversky und Kahneman" gesprochen, sondern als "Kahneman und Tversky". Im Herbst 2001 wurde Daniel nach Stockholm eingeladen, um an 'ner Konferenz teilzunehmen und 'ne Rede zu halten. Die Mitglieder des Nobelpreiskomitees und die Größen der Wirtschaftswissenschaften waren alle da. Genau wie Daniel waren sie wegen des Nobelpreises gekommen. "Das war 'ne Art Generalprobe", sagte Daniel. Er hat viel Mühe in die Vorbereitung dieser Rede gesteckt, weil er wusste, dass er nicht nur die gemeinsamen Ergebnisse der beiden präsentieren musste, sondern auch was Neues bieten musste. Einige seiner Freunde haben sich auch gewundert, dass das Nobelpreiskomitee sich für 'ne gemeinsame Forschungsarbeit interessiert hat. "Ich wurde wegen der gemeinsamen Arbeit eingeladen", sagte Daniel, "aber ich musste beweisen, dass ich selbst auch gut genug bin. Es ging nicht darum, ob die Arbeit den Nobelpreis verdient, sondern darum, ob ich ihn verdiene."

Normalerweise hat Daniel seine Reden nicht vorbereitet. Einmal hat er bei 'ner Eröffnungsfeier an der Universität aus dem Stegreif 'ne Rede gehalten, und alle dachten, er hätte sich vorbereitet, obwohl er erst kurzfristig eingeladen worden war. Aber diesmal war es anders, er hat an dieser Rede für die Konferenz in Stockholm gefeilt. "Ich wollte nichts dem Zufall überlassen, ich hab sogar lange gebraucht, um die Hintergrundfarbe der Folien auszuwählen", sagte er. Er wollte über das Thema Glück sprechen, das Thema, das er am liebsten mit Amos erforscht hätte, was aber nie geklappt hat. Er sprach darüber, wie sich die Erwartungen der Menschen an das Glück von dem Glück unterscheiden, das sie wirklich erleben, und wie sich beides von dem Glück unterscheidet, an das sich die Menschen erinnern. Und er sprach darüber, wie man das messen kann – zum Beispiel durch Fragen vor, während und nach 'ner Darmspiegelung. Er sprach auch darüber, dass das auf dem Modell der "Nutzenmaximierung" aufbauende Modell der Wirtschaftswissenschaft infrage gestellt werden sollte, wenn das Glück so veränderlich und dehnbar ist. Was priorisieren die Menschen dann eigentlich?

Nach der Konferenz ist Daniel dann nach Princeton zurückgefahren. Er hatte so 'n Gefühl, dass er den Nobelpreis bekommen könnte. Das Komitee hatte seine Forschung ja gesehen und gehört. Und die würden ja dann entscheiden, ob er den Preis verdient.

Der 9. Oktober 2002, das war der Tag, an dem der Nobelpreis bekannt gegeben wurde. Alle Kandidaten wussten, dass die Nachricht aus Stockholm am frühen Morgen kommen sollte. Daniel und Anne waren zu Hause in Princeton, sie haben gewartet, aber auch nicht so richtig. Daniel war gerade dabei, 'n Empfehlungsschreiben für seinen Studenten Terry Odean zu schreiben. Ehrlich gesagt hat er sich nicht so viele Gedanken darüber gemacht, was er machen würde, wenn er den Preis bekommen würde. Oder besser gesagt, er hat sich bewusst nicht damit beschäftigt. Als Kind im Krieg hat er sich mit Fantasie das Leben schön geredet. Er konnte sich komplexe Szenarien vorstellen, in denen er im Mittelpunkt stand. Zum Beispiel hat er sich vorgestellt, dass er im Alleingang die Feinde besiegt und den Krieg beendet hat. Aber weil er Daniel ist, hat er sich selbst die Regel auferlegt, sich nicht die Dinge auszumalen, die realistisch sein könnten. Wenn er sich etwas ausmalen würde, was er erreichen könnte, würde er die Motivation verlieren und aufgeben. Wenn diese Dinge in seiner Fantasie so lebensecht wären, als wären sie schon seins, warum sollte er sich dann noch anstrengen? Er konnte den Krieg, der seinem Vater das Leben gekostet hat, nicht beenden, also warum sollte er sich dann ausmalen, dass er im Alleingang die Feinde vernichtet?

Also hat Daniel sich auch nicht erlaubt, sich auszumalen, was er machen würde, wenn er den Nobelpreis bekommen würde. Das war eigentlich ganz gut, weil das Telefon ja nicht geklingelt hat. Irgendwann ist Anne aufgestanden und hat ein bisschen traurig gesagt: "Na gut." Enttäuschte Leute gibt's jedes Jahr, und Leute, die mit 'nem Telefon dasitzen und auf 'ne gute Nachricht warten, auch. Anne ist zum Sport gegangen und hat Daniel alleine zu Hause gelassen. Daniel konnte gut damit umgehen, Dinge nicht zu bekommen, deshalb war die verpasste Auszeichnung für ihn keine allzu große Belastung. Er war zufrieden mit dem, was er war und was er gemacht hatte. Jetzt konnte er sich ja gefahrlos ausmalen, was er machen würde, wenn er den Preis bekommen würde. Er würde mit Amos' Frau und seinen Kindern zur Preisverleihung gehen. Er würde seine Rede mit der Trauerrede beenden, die er für Amos geschrieben hat. Er würde Amos mit nach Stockholm nehmen. Er würde all das für Amos tun, was Amos nie für ihn getan hat. Aber jetzt hatte er ja noch was anderes zu tun. Er hat sich wieder an seinen Schreibtisch gesetzt und das Empfehlungsschreiben für Terry Odean weitergeschrieben.

Dann klingelte das Telefon.

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