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Okay, also, äh, hallo erstmal. So, lass uns mal über was ganz Verrücktes reden, ja? Und zwar, wie Timing... also, wirklich auf die Sekunde genau, krasse Auswirkungen haben kann, die die ganze Welt verändern. Stell dir vor, es geht um Leben und Tod, und alles hängt davon ab, wann genau was passiert.
Da war dieser Joseph Lott, der... der hat überlebt, weil er zufällig am richtigen Tag ein grünes Hemd getragen hat. Krass, oder? Und dann Elaine Greenberg, die... die sein Leben gerettet hat, die ist gestorben, weil sie ihren Urlaub eine Woche zu früh genommen hat. Echt tragisch. Wenn man so will, ist Notwendigkeit die Mutter der Erfindung, aber Timing... Timing ist die Mutter des Zufalls, oder besser gesagt, des unvorhergesehenen Ereignisses.
Weißt du, Fliegen schwirren ja ständig auf der Straße rum, meistens passiert ja nix. Aber manchmal, ganz selten, fliegt halt so'ne Fliege in's Auge von 'nem Motorradfahrer, und dann knallt's. Boom! Zwei völlig unabhängige Dinge treffen durch Zufall zusammen, scheinbar willkürlich, aber eben durch dieses unberechenbare Element Zeit. Das nennt man dann "Cournot-Kontingenz", wenn zwei unabhängige Wege sich an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit kreuzen. Und das kann halt... ja, im schlimmsten Fall den Tod bedeuten, durch 'ne Millisekunde. Wir sind halt der Zeit ausgeliefert, so ist es einfach.
Also, Elaine Greenberg, die war im Herbst irgendwann in Tanglewood, Massachusetts, im Urlaub. Und da hat sie 'ne Krawatte entdeckt, von Monet, "Sonnenuntergang in Lavacourt", die sie dachte, die wär perfekt für ihren Kollegen, den Joe Lott. Der war nämlich bekannt dafür, Krawatten mit Gemälden drauf zu tragen, und Impressionisten waren seine absoluten Favoriten. Also, sie kauft die Krawatte, weil sie dachte, das wär 'ne nette Geste für den Lott, der ja nächste Woche nach New York City zu 'ner Konferenz fliegen sollte.
Am Montag vor der Konferenz steigt der Lott in den Flieger, aber dann gab's halt heftige Stürme, überall. Der Flug, der eigentlich nur ein paar Stunden dauern sollte, hat dann vierzehn Stunden gedauert. Der Lott kommt also erst nach Mitternacht in Lower Manhattan an, total fertig, wie man sich vorstellen kann. Er hätte eigentlich mit der Greenberg zu Abend essen sollen, um die Präsentation durchzugehen, aber das musste er dann absagen. Sie haben sich dann für ein frühes Frühstück entschieden. Bevor der Lott total erschöpft ins Bett gefallen ist, hat er noch seine Klamotten für den nächsten Tag rausgelegt. Und da hat er gemerkt, dass sein strahlend weißes Hemd, das er eigentlich zur Konferenz anziehen wollte, total zerknittert war.
Am nächsten Morgen wacht der Lott auf, sieht das zerknitterte Hemd und ist froh, dass er noch ein anderes dabei hat, so ein pastellgrünes. Um 7:20 Uhr ist er dann im Frühstücksraum des Hotels, wo die Greenberg ihm bei der Präsentation hilft. Nach dem Frühstück, so gegen 8:15 Uhr, überreicht sie ihm dann das Geschenk, die Monet-Krawatte, mit dem schimmernden Blau der Seine vor dem feurig rot-orangenen Himmel bei Sonnenuntergang. Der Lott war total gerührt. Er bedankt sich und sagt: "Elaine, ich zieh die Krawatte gleich an, die bringt Glück!" Und sie so: "Nee, nicht zu dem Hemd!" Der Lott lacht, aber er gibt ihr Recht. Er wusste ja selbst, dass die Krawatte überhaupt nicht zu dem pastellgrünen Hemd passen würde. Also beschließt er, zurück auf sein Zimmer zu gehen und das Hemd zu wechseln – auch wenn er dann ein paar Minuten zu spät kommt. "Bis gleich", sagt der Lott. Die Greenberg winkt zum Abschied und geht dann zum Konferenzzentrum, in den 106. Stock von Turm 1 des World Trade Centers.
Der Lott geht zurück auf sein Zimmer und fängt an, sein zerknittertes weißes Hemd zu bügeln. Das hat ungefähr fünfzehn Minuten gedauert, so dass er immer noch am Bügeln war, als das erste Flugzeug um 8:46 Uhr in den Turm einschlug.
Der Lott hat überlebt. Die Greenberg ist gestorben. Der Lott trägt jetzt nur noch Krawatten mit Kunstmotiven, als Hommage an seine verlorene Freundin und dieses kleine Stück Stoff, ein aufmerksames Geschenk, das genau zur richtigen Zeit kam, um sein Leben zu retten.
Wir alle kennen doch diese Geschichten, wo man sich fragt, wie jemand so viel Glück oder so viel Pech haben kann. Das sind so unglaubliche Geschichten, dass sie uns total überraschen. Aber das Geheimnis ist: Das ist eigentlich ganz normal, so passieren Veränderungen. Das Timing bestimmt und lenkt unser Leben ständig, auch wenn manche Ereignisse größere, direktere Folgen haben als andere. Die unmittelbare Ursache für das Glück des Lotts und das Unglück der Greenberg war vielleicht ein Regenschauer, ein verspäteter Flug und ein Geschenk zur richtigen Zeit – alles durch Timing verursacht. Aber wir leben in einem riesigen Netz von Ursachen, die bis in die Vergangenheit zurückreichen, jedes Glied geformt durch die Launen der Zeit.
Als der Lott bei den Marines in Rente gegangen ist, hat er angefangen, beruflich viel zu reisen und kam mal an einem Kunstmuseum vorbei. Er hatte Zeit, also ist er reingegangen. Wär der Lott an dem Tag in Eile gewesen, wär er vielleicht nicht reingegangen, hätte vielleicht seine Liebe zur impressionistischen Malerei nicht entdeckt, hätte vielleicht nie Kunstkrawatten getragen, und die Greenberg hätte nie "Sonnenuntergang in Lavacourt" gekauft. Wenn man bedenkt, was alles passieren musste, damit dieses Frühstück genau so ablaufen konnte, gibt es fast unendlich viele Möglichkeiten. Wenn auch nur kleine Dinge um Sekunden schneller oder langsamer passiert wären, selbst in der fernen Vergangenheit, wäre dieses Frühstück nicht so abgelaufen. Alles bis zu diesem Moment musste genau so sein, damit Joe Lott die Krawatte genau dann und dort erhalten konnte, am 11. September. Solche unglaublichen Geschichten wie das Überleben des Lotts zeigen uns, wie zerbrechlich unser Leben eigentlich ist. Aber solche Zufälle der Zeit prägen uns ständig. Wir merken es nur nicht, bis wir in einem wichtigen Moment, wie der Lott, darüber nachdenken, was hätte sein können. Hätten wir einen anderen Weg einschlagen können?
Irgendwo hatte ich mal eine Kurzgeschichte vom argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges erwähnt, "Der Garten der Pfade, die sich verzweigen". Das ist 'ne super Metapher für unsere Erfahrung von Zeit. Jeder Moment unseres Lebens ist wie eine Gabelung mit fast unendlich vielen Möglichkeiten. Was wir in jedem Moment tun, beeinflusst unseren Weg und welche Gabelungen als nächstes kommen. Der "Scheideweg" ist also nicht nur 'ne Metapher für wichtige Entscheidungen im Leben, sondern der "Garten der Pfade, die sich verzweigen" ist 'ne Metapher für unsere gesamte Reise durchs Leben. Es ist ein ständiges, unaufhörliches Verzweigen. Jetzt gerade, während du das hier liest, verzweigt sich dein Weg, weil du das tust und nicht was anderes. Leg das Buch weg, und dein Weg verzweigt sich wieder. Aber das Verrückte ist: Manche Wege, die dir jetzt offenstehen, werden bald abgeschnitten, nicht durch dein Handeln, sondern durch andere Leute, die in ihren eigenen Gärten unterwegs sind. Und wenn du deinen Weg gehst, veränderst du auch die Wege anderer, immer weiter.
Und es sind nicht nur Menschen, die deinen Weg durch das Timing beeinflussen. Am 11. September waren die Stürme, die den Flug des Lotts verzögert hatten, vorbei, es gab strahlend blauen Himmel. Keines der entführten Flugzeuge hatte Verspätung oder Probleme, seine Ziele zu finden, weil es bewölkt war. Es gab kein "Kokura-Glück" an diesem Tag in Manhattan oder Washington. Der "Garten der Pfade, die sich verzweigen" wird von allem beeinflusst, überall, die ganze Zeit.
Dieser "Garten" ist auch 'ne gute Metapher, um Veränderungen in der Natur zu erklären. Wenn Mutationen in Organismen auftreten, werden manche Wege möglich, die vorher nicht möglich waren, während andere versperrt werden. Und auch hier ist das Timing entscheidend. Es hat sich gezeigt, dass die Reihenfolge der Mutationen 'ne große Rolle spielt, sogar für die Entstehung von Krebs. Es kommt also nicht nur darauf an, welche zufälligen Mutationen auftreten, sondern wann sie passieren und in welcher Reihenfolge sie auftreten. Jeder Weg, den wir gehen, macht bestimmte Welten möglich und andere unmöglich.
Die Zeit ist die unsichtbare Variable des Lebens. Wir können uns keine Welt ohne Zeit vorstellen, weil wir immer nur den Moment erleben können. Aber wenn man genauer hinschaut, wie die Zeit funktioniert, dann merkt man, dass diese Welt der Kontrolle, die wir durch Uhren, Kalender und Zeitpläne haben, anfängt zu bröckeln. Sogar diese vermeintliche Stabilität ist eigentlich total zufällig. Die Zeit ist schon 'ne echt seltsame Sache.
"Fangen wir mit einer einfachen Tatsache an", schreibt der theoretische Physiker Carlo Rovelli. "Die Zeit vergeht in den Bergen schneller als auf Meereshöhe." Das ist jetzt nicht einfach nur so'n Spruch, sondern 'ne objektive, bewiesene Wahrheit. Die Schwerkraft von 'ner Masse, wie zum Beispiel die Erde, verzerrt die Zeit, so dass die Zeit in der Nähe der Masse langsamer vergeht. Das nennt man "Zeitdilatation". Mit supergenauen Atomuhren haben Wissenschaftler das jetzt auch experimentell bewiesen. Sogar kleinste Unterschiede sind wichtig.
Vor einiger Zeit wurden extrem genaue Uhren in verschiedenen Höhen aufgestellt, die eine Uhr war nur etwa 30 Zentimeter über der anderen. Und tatsächlich ist die Zeit für die höhere Uhr minimal schneller vergangen. Rein theoretisch ist dein Kopf also älter als deine Füße. Aber die Unterschiede sind so winzig. Wenn zwei Menschen im gleichen Moment geboren werden, aber einer auf dem Mount Everest lebt und der andere auf Meereshöhe, dann wäre der Berg-Zwilling nach hundert Jahren nur ein paar Tausendstel Sekunden älter. Für unser Leben ist das natürlich egal, aber es zeigt, dass es keine objektive Zeit gibt. Zeit existiert nur in Beziehung, und das zeigt wieder mal, dass alles miteinander verbunden ist. Die Zeit selbst bleibt aber ein Rätsel.
Unsere Erfahrung von Zeit kann auch durch menschliche Entscheidungen beeinflusst werden. Unser Leben folgt Mustern und Rhythmen, die nicht nur von den Gesetzen des Universums bestimmt werden, sondern auch von uns. Unsere Vorfahren haben die Zeit in Abschnitte unterteilt, die wir heute noch nutzen, um unser Leben zu organisieren. Auch das ist irgendwie ein Zufallsprodukt der Vergangenheit. Es ist also nicht nur so, dass jedes Timing wichtig ist, sondern auch, dass unsere Einteilung der Zeit selbst willkürlich ist. Wenn man darüber nachdenkt, wie dein Leben mit der Zeit zusammenhängt, dann wird man feststellen, wie viel von deinem Alltag von Menschen bestimmt wurde, die schon lange tot sind.
Wir schauen in den Kalender, um in die Zukunft zu sehen und zu wissen, was kommt. Aber im Grunde sind unsere Kalender das Ergebnis von Entscheidungen, die vor Tausenden von Jahren von kleinen Gruppen von Menschen getroffen wurden und die den Rhythmus unseres Lebens und die Muster unserer modernen Gesellschaft prägen. Die Monate, die nach dem Mond benannt sind, waren ursprünglich an die Mondzyklen gebunden. In den Anfängen Roms hatten die Leute einen Zehn-Monate-Kalender mit 304 Tagen. Die restlichen Tage des Jahres wurden zu 'ner Winterperiode zusammengefasst, die unterschiedlich lang war. Später wurden dann zwei Monate hinzugefügt, Januar und Februar, aber das ursprüngliche Nummerierungssystem ist geblieben. Deshalb beziehen sich die Namen September, Oktober, November und Dezember auf die Zahlen sieben, acht, neun und zehn, obwohl sie jetzt – mit Januar und Februar – der neunte, zehnte, elfte und zwölfte Monat sind. Sogar unsere Namen sind also Überbleibsel vergangener Entscheidungen. Trotzdem richten sich viele unserer Haushaltsbudgets nach den Mondphasen, weil wir in bestimmten Intervallen bezahlt werden.
Und dann sind da noch die Wochentage. Anders als in den meisten romanischen Sprachen stammen die Namen im Deutschen nicht aus dem Lateinischen, sondern von germanischen Göttern. Dienstag kommt von Ziu, dem germanischen Kriegsgott. Mittwoch ist Odins Tag, dem Gott, der über Walhall wacht. Dann kommt Donners Tag, gefolgt von Freias Tag, zu Ehren der Göttin der Liebe, die mit Odin verheiratet war. Wir sprechen diese Namen ständig aus, ohne über ihren Ursprung nachzudenken, das ist wie 'n Blick in 'ne vergessene Geschichte. Aber warum richten wir unser Leben überhaupt nach Wochen aus? Wer hat entschieden, dass alles in unserem Leben in einem Sieben-Tage-Zyklus ablaufen soll?
Anders als viele andere Zeitmaße hat die Woche nichts mit Zyklen in der Natur zu tun. Stattdessen stammt die erste dokumentierte Einteilung der Zeit in Sieben-Tage-Abschnitte aus einem Dekret von König Sargon I. von Akkad um 2300 v. Chr., der die Zahl Sieben als heilig ansah. Eine Sieben-Tage-Woche tauchte später auch in der hebräischen Bibel auf. Aber die hebräische Bibel schlägt nie vor, die Woche als Methode der Zeitmessung zu verwenden, und ihr eigenes Referenzsystem für Daten ignoriert die Wochentage völlig und katalogisiert Daten anhand eines numerischen Systems innerhalb von Monaten.
Im ersten Jahrhundert v. Chr. tauchte in Rom zum ersten Mal die Planetenwoche auf – ebenfalls sieben Tage lang. Sie hatte nichts mit Ruhe oder Arbeit zu tun, sondern mit dem Glauben, dass bestimmte Planeten zu bestimmten Zeiten über das menschliche Schicksal herrschen, so 'ne Art frühe Astrologie. Warum hat der Planetenkalender sieben Tage? Weil man fünf Planeten mit bloßem Auge sehen konnte (Saturn, Mars, Merkur, Jupiter und Venus), und zusammen mit der Sonne und dem Mond sind das sieben. Die romanischen Sprachen haben diese sichtbaren Himmelskörper immer noch in ihren Tagesnamen. Im Französischen ist zum Beispiel mardi für Mars Dienstag, mercredi für Merkur Mittwoch, jeudi für Jupiter Donnerstag und vendredi für Venus Freitag. Das französische Wort für Mond ist la lune, also ist Montag lundi. Wenn die Römer Teleskope gehabt hätten und andere Himmelskörper hätten sehen können (wie Uranus und Neptun), dann würden wir unser Leben jetzt vielleicht in Neun-Tage-Wochen einteilen. In frühen walisischen Texten ist von 'ner Neun-Tage-Woche die Rede. Oder wenn die Römer nur bei den Planeten geblieben wären und nicht noch Sonne und Mond dazugenommen hätten, dann hätten wir vielleicht Fünf-Tage-Wochen. Es gab ja immer andere Möglichkeiten. Die alten Chinesen und Ägypter haben ihr Leben in Zehn-Tage-Wochen strukturiert. Wie anders unser Leben wäre! Und das alles kommt von 'ner zufälligen Mischung aus Geschichte, Visionen, Technologie und Astronomie innerhalb von 'ner kleinen Gruppe von Menschen, die vor langer, langer Zeit gelebt haben. Wir synchronisieren unser Leben mit Rhythmen, die durch Zufälle der Geschichte entstanden sind. Die Zeit, die willkürlich eingeteilt ist, lauert im Hintergrund jedes wichtigen Ereignisses der modernen Menschheitsgeschichte und unseres eigenen Lebens. Meistens ignorieren wir sie einfach.
Wir werden auch davon beeinflusst, wie unsere innere Uhr mit diesen willkürlichen Zeiteinteilungen interagiert. Forscher haben ein einheitliches Tagesmuster in der Stimmung gefunden, so dass mehr Menschen morgens optimistischer oder positiver denken, gefolgt von 'nem Nachmittagstief, mit 'ner Erholung der Stimmung am Abend. Das spiegelt sich auch in den Musik-Streaming-Vorlieben wider, da die Menschen im Durchschnitt nachts eher entspannende Musik hören und während der Arbeitszeit eher energiegeladene Musik. Die meisten Leute sind auch am Wochenende glücklicher, aber der Zeitpunkt dieses Stimmungshochs liegt zwei Stunden später als an Wochentagen, was ja auch Sinn macht, weil viele Leute samstags und sonntags gerne ausschlafen. Das mag alles irgendwie offensichtlich erscheinen, aber über die gesamte Bevölkerung hinweg kann das große Auswirkungen haben. Weil Menschen stimmungsabhängig sind, können Timing-bedingte Auswirkungen haben.
Wenn börsennotierte Unternehmen zum Beispiel ihre Quartalsergebnisse bekannt geben, sind sie gesetzlich verpflichtet, die wirtschaftliche Lage anhand der Zahlen korrekt darzustellen. Die Stimmung sollte da eigentlich keine Rolle spielen, die Unternehmen sollten eigentlich nur nüchterne Zahlen liefern. Aber die Forscher Jing Chen und Elizabeth Demers haben herausgefunden, dass die Anrufe am Morgen systematisch positiver waren als die Anrufe über ähnliche Daten, die am Nachmittag bekannt gegeben wurden. Diese Unterschiede waren so krass, dass die Aktienkurse aufgrund des Tons der Anrufe im Verhältnis zu den tatsächlichen Zahlen zeitweise falsch bewertet wurden. Es gibt also kein neutrales Timing.
Wie wir unsere Welt verstehen, wird in hohem Maße von den Leuten geprägt, die forschen und uns erklären, wie die Welt funktioniert. Aber die Sozialwissenschaften ignorieren das Timing meistens. Das ist vielleicht neu für dich. Aber die meisten Ökonomen, Politikwissenschaftler und Soziologen verwenden quantitative Methoden, mit denen man das genaue Timing nur schwer modellieren kann. Nur wenige Datensätze berücksichtigen die genaue Reihenfolge der Ereignisse. In den meisten quantitativen Methoden, die von Sozialforschern verwendet werden, wäre es extrem schwierig, so was wie 'nen Putsch zu modellieren, der von 'ner einzigen Sekunde abhängt, oder die Vorstellung, dass das Ergebnis manchmal von der genauen Reihenfolge scheinbar zufälliger Ereignisse abhängt. Stattdessen werden nur grobe Maße verwendet, so was wie Interaktionseffekte – das Vorhandensein von zwei Variablen zusammen, aber meistens ohne Berücksichtigung des genauen Timings. Variablen werden oft einfach zusammengefasst, wie in 'nem Kochrezept, wo es egal ist, in welcher Reihenfolge die Zutaten hinzugefügt werden. Aber die meisten Rezepte funktionieren nicht so, und man bekommt halt blöde Ergebnisse, wenn man das Mehl erst nach dem Backen in den Kuchen gibt. Genauso bekommt man in der Sozialforschung die falschen Antworten, wenn man dem Timing und der Reihenfolge nicht genug Aufmerksamkeit schenkt.
Und wenn wir uns selbst untersuchen, vergessen wir auch, dass wir eben nicht wie 'n Kuchen sind. Ein Rezept funktioniert zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten. Aber wir gehen oft fälschlicherweise davon aus, dass das auch in der menschlichen Gesellschaft so ist: dass die gleichen Faktoren, einmal zusammengemischt, zum gleichen Zeitpunkt A und zum gleichen Zeitpunkt B das gleiche Ergebnis liefern. Das ist natürlich falsch. Diese fehlerhafte Annahme, die so weit verbreitet ist, dass sie oft nur implizit ist, nennt man "ceteris paribus", also "alle anderen Dinge sind gleich". In 'ner sich ständig verändernden Welt sind aber nie alle anderen Dinge gleich, und es ist selten sicher, das anzunehmen, es sei denn, Ursache und Wirkung sind stabil, so wie beim Münzwurf. In der Realität stimmt 'n Muster an einem Ort nicht unbedingt an einem anderen Ort, wie wir am Beispiel Erde gesehen haben. Die Ergebnisse sind nicht nur räumlich unterschiedlich, sondern auch zeitlich. Es ist ja nicht so, dass man Joe Lott mit 'ner Monet-Krawatte immer eine Lebens- oder Todessituation beschert. Viele Sozialwissenschaftler räumen diese Fehler ein, verwenden aber trotzdem die "Momentaufnahme" der Zeit als grobe, aber manchmal nützliche Vereinfachung der Realität.
Nehmen wir mal diese scheinbar einfache Frage: "Reduzieren Pandemien die Produktivität?" Die Antwort setzt ja voraus, dass Pandemien im Laufe der Zeit und an verschiedenen Orten im Allgemeinen gleich sind, und dass man die Lehren aus der einen auf die andere anwenden kann. Während der COVID-19-Pandemie konnte überraschend viel von Büroangestellten im Homeoffice erledigt werden. Kann man daraus schließen, wie sich Pandemien im Allgemeinen auf die Produktivität auswirken?
Die Antwort wird klar, wenn man sich vorstellt, was passiert wäre, wenn sich das neuartige Coronavirus im Jahr 1990 anstelle von 2020 verbreitet hätte. Ohne PCs, Videokonferenzen oder Internet in den meisten Haushalten wäre Homeoffice in großem Umfang unmöglich gewesen. Wenn das gleiche Virus im Jahr 1950 in Wuhan aufgetaucht wäre, hätte es eine ganze Weile gedauert, bis es sich von China in den Rest der Welt verbreitet hätte. Die Auswirkungen des gleichen Virus wären also enorm unterschiedlich, nur aufgrund des Timings. Und solche Tatsachen wischen wir dann gerne mit "ceteris paribus" weg. Solche Annahmen können aber zu katastrophalen Fehlkalkulationen führen.
Selbst wenn wir scheinbar stabile Muster und Regelmäßigkeiten herausfinden, ist es immer noch möglich, dass die gleichen Ursachen an einem Tag 'ne Regierung stürzen oder 'ne Wirtschaft zum Absturz bringen, am nächsten Tag aber keine oder 'ne andere Wirkung haben. Die Passagiere von United Airlines Flug 93 haben ihr entführtes Flugzeug am 11. September zum Absturz gebracht, bevor es sein eigentliches Ziel erreichen konnte, aber es ist durchaus möglich, dass andere Passagiere am 10. oder 12. September anders reagiert hätten und das Weiße Haus oder das Kapitol zerstört worden wären. Zufall über Zufall über Zufall, alles gestapelt auf den prekären Eigenheiten von Uhren und Kalendern.
Aber die Zeit ist natürlich kein reines Chaos. So wie Systeme lange stabil bleiben können, bevor sie auseinanderbrechen oder sich radikal verändern, sind manche Veränderungen flüchtig, während andere sich festsetzen und bleiben, wie zum Beispiel die Sieben-Tage-Woche. Das macht die Auswirkungen des Timings noch unsicherer, weil auch das Festsetzen selbst willkürlich ist. Die Wörter, die du gerade liest, haben zum Beispiel 'ne bestimmte Schreibweise, die durch zufällige historische Entwicklungen in Kombination mit 'nem Lock-in-Effekt durch neue Technologie entstanden ist.
"Die englische Rechtschreibung ist lächerlich", schreibt Arika Okrent, 'ne Linguistin und Neurowissenschaftlerin, die untersucht, wie sich Sprache im Laufe der Zeit verändert. "Sew und new reimen sich nicht. Kernel und colonel schon." Warum ist das so? Unsere Sprache wurde von zufälligen Ereignissen der Geschichte beeinflusst, die zu bestimmten Zeitpunkten des Sprachwandels stattgefunden haben. Die Angelsachsen in England sprachen Altenglisch. Die Wikinger brachten Altnordisch ein. Im elften Jahrhundert löschten die Normannen die geschriebene englische Sprache aus und ersetzten sie durch Französisch. Aber als die geschriebene englische Sprache im 14. Jahrhundert zurückkam, war die Sprache im Umbruch, und die Schreibweise der Wörter hing von den Vorlieben der einzelnen Mönche und Schreiber ab. "People, abgeleitet vom französischen peuple, konnte peple, pepill, poeple oder poepul geschrieben werden", schreibt Okrent.
Dann wurde der Buchdruck erfunden. Die Standardisierung wurde wichtig, und die Wörter mussten aus Effizienzgründen gekürzt werden. Aus hadde wurde had, aus thankefull wurde thankful. Als die Schreibweisen erkennbar wurden, wurde es schwieriger, zu experimentieren. Aber weil sich die Sprache so schnell veränderte, wäre dieses Buch und alles andere, was du je gelesen hast, anders geschrieben, wenn die Druckerpresse ein paar Jahrzehnte früher oder später gekommen wäre. Lock-in bedeutet also, dass manche Timings wichtiger sind als andere. Manche Zufälle haben Bestand.
W. Brian Arthur, ein Wirtschaftswissenschaftler, der einer der Gründerväter der Komplexitätstheorie wurde, hat diesen Effekt am Beispiel der Technologie gezeigt und einen neuen Begriff geprägt, nämlich "zunehmende Renditen". In den 1970er Jahren war im Kampf zwischen VHS und Betamax noch nicht klar, welche Technologie sich durchsetzen würde. Aber als VHS erst mal mehr Marktanteile gewann, kauften mehr Leute VHS-Player, so dass sie für ein paar Jahre an die Technologie gebunden waren, weil ein Wechsel teuer gewesen wäre. Bald darauf starb Betamax aus. Dieser willkürliche Lock-in-Effekt hing weitgehend vom Timing ab. Musikinstrumente sind auch ein Beispiel für zunehmende Renditen und Lock-in, bei denen es fast unendlich viele Möglichkeiten gibt, Klang zu erzeugen, aber die meisten Leute lernen, ein winziges, zufälliges Subset aller möglichen Instrumente zu spielen. Schon mal was von weniger verbreiteten Instrumenten wie Gue, Lituus, Sambuca oder Peri Yazh gehört? Aus zufälligen Gründen, die teilweise auf dem Timing beruhen, dominierten einige Instrumente, während andere ausstarben. Sobald bestimmte Merkmale für das, was als "Gitarre" gilt, festgelegt sind, nimmt das Experimentieren mit dem Design ab. Die Standardisierung regiert.
Das Gleiche gilt für moderne Hunde, die auch zufällige Timing-Unfälle sind. Hunde wurden in den Nebeln der prähistorischen Menschheitsgeschichte domestiziert, aber die modernen Hunderassen, wie wir sie kennen, entstanden in einem winzigen Zeitraum innerhalb des viktorianischen Großbritanniens. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war die Vielfalt zwischen den Hunderassen begrenzt, und alle wurden nach ihrer Funktion eingeteilt. Dann beschloss eine kleine Anzahl von Leuten aus den Oberschichten der englischen Gesellschaft – die sowohl reich als auch gelangweilt waren –, Hundeausstellungen zu veranstalten. Die Aristokraten, die mit diesen Ausstellungen in Verbindung standen, gewannen Ansehen, indem sie neue Rassen züchteten und klassifizierten. Sie legten idealisierte Rassemerkmale fest, was die Spezialisierung und Standardisierung vorantrieb. Im Jahr 1840 gab es zwei Arten von Terriern. Dank dieser viktorianischen Experimente gibt es jetzt siebenundzwanzig. Jack Russell Terrier sind nach Jack Russell benannt, 'nem Pfarrer aus dem viktorianischen Zeitalter, der sie für die Fuchsjagd gezüchtet hat. Wenn du, wie ich, 'nen Border Collie als besten Freund hast, wurden seine standardisierten Merkmale nach 'nem schottischen Gerichtsverfahren, dem "Great Collie Ear Trial", festgelegt, um zu bestimmen, ob die Ohren eines Collies spitz, gekippt oder schlaff sein sollen. Die Hunde, die wir heute sehen, wären völlig anders, wenn neue Rassen in den 1930er Jahren in Amerika oder in den 1770er Jahren in Frankreich gezüchtet und standardisiert worden wären. Unsere Hunde sind also auch 'n glücklicher Zufall von Timing und Lock-in.
Unsere vereinfachten Vorstellungen von Ursache und Wirkung versagen immer wieder, weil die gleichen Ursachen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Auswirkungen haben. Und was die Sache noch komplizierter macht, ist die genaue Reihenfolge, von der Reihenfolge der Mutationen, die Krebs verursachen, bis zur Reihenfolge der Entscheidungen, die wir treffen. In unseren Gärten der sich verzweigenden Pfade kommt es nicht nur darauf an, welchen Weg wir einschlagen, sondern wann wir ihn einschlagen.
Wir denken oft, dass wir den "Lärm" einfach ignorieren können, also Zufälle, die zufällige Unsicherheit, die durch unsere Überzeugungen, den Ort, die beteiligten Personen oder den Zeitpunkt entsteht. Aber das können wir nicht. Sogar unsere besten Experten liegen regelmäßig falsch. Und das führt zu 'ner beunruhigenden Tatsache: Wir verstehen uns selbst nicht. Die Frage ist dann: Können wir das überhaupt?