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Calculating...

Also, ich erzähl euch mal ne Geschichte, ne? Und zwar geht's um 'nen Überlebenden-Club aus L.A. Wirklich ne krasse Sache.

Da war zum Beispiel Fred Diament. Der kam ins Konzentrationslager Sachsenhausen, dann nach Auschwitz. War grad mal fünfzehn. Und sein Vater wurde zu Tode geprügelt, sein Bruder gehängt. Fünf Winter in den Lagern, dann Widerstand, Todesmarsch überlebt. Später traf er seine Frau auf nem Schiff nach Palästina, kämpfte im israelischen Unabhängigkeitskrieg, dann noch mal im Sinai-Feldzug. Und irgendwann landete er in Los Angeles, machte sein Uni-Diplom im Abendstudium und wurde Chef ner Damenbekleidungsfirma. War nur so'n kleiner Mann, aber hat sich aufgeführt wie 'n Riese. Alle nannten ihn Freddie.

Rachel Lithgow kannte Freddie gut. Sie hat für Steven Spielbergs Shoah Foundation gearbeitet. "Freddie war echt sauer," sagte sie. "Aber auch total witzig. Unglaublicher Humor. So richtig schwarz. Er nannte Auschwitz, glaub ich, 'nen Country Club.'"

Freddies bester Freund war Siegfried Halbreich. Die waren zusammen in Sachsenhausen und Auschwitz. Sig war einer der Anführer des Widerstands und Apotheker, also hat er die Gefangenen medizinisch versorgt. 1960 zog er nach Los Angeles und eröffnete nen Bilderrahmenladen. Freddie und Sig waren unzertrennlich. "Wie Ralph Kramden und Norton! Die haben sich jeden Tag gestritten," erzählte Lithgow. "Echt albern. Sig war dieser korrekte, steife Deutsche. Am lockersten hab ich ihn erlebt, als er mal keine Krawatte trug."

Freddie ist dann irgendwann gestorben, 2004.

Die Beerdigung war voll. Die ganze Community war da. Sogar Leute, die Freddie gehasst hat. Und Sig Halbreich hielt die Grabrede. Er war total dramatisch, im besten Anzug. Und er sagte mit seinem dicken deutschen Akzent: "Was können wir über Fred Diament sagen?"

Dann drehte er sich zum Sarg seines Freundes um und wedelte mit den Händen, richtig wild gestikulierend. Aber mit dem Rücken zum Publikum! Wir haben kein Wort verstanden. Dann drehte er sich wieder um, packte ans Rednerpult und sagte ganz theatralisch: "Und dat vas Fred." Alle sind ausgeflippt vor Lachen.

Dann gab's noch Masha Loen. Sie war Litauerin und überlebte Stutthof, das KZ bei Danzig. Hatte zweimal Typhus. Sie nannte das "die Typhusse". Bei der Befreiung lag Masha unter Leichen begraben, aber jemand sah sie mit der Hand winken. Sie heiratete ihre große Liebe und zog nach dem Krieg nach Los Angeles. War ne Wahnsinnsfrau.

"Oh, du hast keine Ahnung," sagte Lithgow. "Sie war meine Sekretärin. Und wir haben grad ne Aussendung gemacht, an Pessach. Und ich frag: 'Wo ist Masha?' Ich geh in eins der leeren Büros – es war ja Pessach – und da sitzt sie mit nem Cheeseburger."

Cheeseburger sind so ziemlich das Unkosherste, was man sich vorstellen kann.

"Ich war total geschockt, und sie sagt: 'Mach die Tür zu.' Ich geh rein, mach die Tür zu, und sie sagt: 'Hör zu, du. Ich bin ne gute Jüdin. Ich hab den Todesmarsch und die Typhusse überlebt... Soll ich zwei Wochen Verstopfung haben, weil unsere Vorfahren in der Wüste rumgeirrt sind?' Ich hab sie nur angestarrt. Und sie sagte: 'Jetzt hau ab aus dem Büro. Und wenn du irgendwem erzählst, dass du mich hier gesehen hast, auch meinem Mann, bring ich dich um.' Ich bin dann ganz langsam rückwärts rausgegangen."

Freddie, Sig und Masha waren so das Herz vom L.A. Überlebenden-Club. Die haben zusammen Englischkurse an der Hollywood High School gemacht. Das sprach sich rum. Immer mehr Überlebende kamen dazu. Ein Lehrer bemerkte das und gab ihnen nen Klassenraum.

"Die haben sich dann langsam ineinander wiedergefunden, weißt du," sagte Lithgow.

Nach dem Unterricht saßen die dann zusammen und redeten. Und dann brachten sie Sachen mit. So was wie: "Das ist das letzte Foto meiner Mutter." Oder: "Das ist die Häftlingsuniform, die ich bei der Befreiung aus Bergen-Belsen trug. Ich kann sie nicht wegwerfen, aber ich kann sie auch nicht länger im Haus haben. Wir wissen nicht, was wir tun sollen."

Also rief Fred Diament irgend nen Typen von der Jewish Federation an und fragte: "Können wir uns nen Schrank leihen, um unsere Sachen aufzubewahren? Wir wollen sie aufheben, aber nicht bei uns zu Hause haben."

Aber der Typ – Lithgow wusste nie, wer das war – meinte, sie sollten lieber ne kleine Ausstellung machen.

Und so stellten sie ihre Sachen aus und schalteten ne Mini-Anzeige in der L.A. Times: "Holocaust-Überlebende zeigen ihre Sachen. Sonntag von X bis Y in der Federation." Tausende Leute kamen. Und die Überlebenden dachten: "Wow, das ist was!"

Die Jewish Federation gab ihnen dann Räume im Erdgeschoss ihres Gebäudes auf der Wilshire Avenue. Sie nannten es das Martyrs Memorial Museum. Es wurde 1961 eröffnet. Das war das erste Holocaust-Museum in den USA. Jahre später wurde Lithgow dann dessen Direktorin.

In den folgenden Jahrzehnten waren sie dann, wie Lithgow sagte, "die Nomaden der Wilshire Avenue". Immer knapp bei Kasse, aber sie haben durchgehalten. Und irgendwann verbreitete sich ihre Idee in den ganzen USA. Heute gibt's in fast jeder größeren Stadt Holocaust-Gedenkstätten oder Museen.

Das Martyrs Memorial Museum heißt jetzt Holocaust Museum LA. Ist in nem schönen neuen Gebäude im Pan Pacific Park in Hollywood. Wenn ihr mal in Los Angeles seid, solltet ihr da hingehen. Und zu ner Veranstaltung. Lithgow erklärte, dass die Veranstaltungen "nicht mit der Nationalhymne enden, sondern mit der Hatikvah [der israelischen Nationalhymne]. Sondern sie singen..." Und dann fing sie an, auf Jiddisch zu singen, das "Partisanenlied", die inoffizielle Hymne der Holocaust-Überlebenden.

"Das haben sie im Wald oder in den Baracken gesungen, um sich Mut zu machen."

Wenn man das Museum verlässt, kommt vielleicht ne Frage auf: Warum hat es bis 1961 gedauert, bis es überhaupt ein Denkmal für den Holocaust in den USA gab? Und warum hat es so lange gedauert, bis sich die Idee verbreitete? Schaut euch die Liste der Museen an, die von Freddie, Sig und Masha inspiriert wurden, und achtet auf die Eröffnungsdaten.

Das erste wurde 1961 eröffnet. Das zweite 1984. Aber erst in den 90ern – ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Holocaust – fasste die Idee der Erinnerung landesweit Fuß. Warum?

Bisher haben wir uns mit der Idee beschäftigt, dass wir für die Fieber und Seuchen um uns herum verantwortlich sind, dass unsere Handlungen die Form ner Epidemie bestimmen. Aber die Fälle, die wir uns angesehen haben, waren an nen Ort oder ne Gemeinschaft gebunden.

Ich will die Diskussion auf die Art von Overstories ausweiten, die über ganzen Kulturen und Ländern schweben können. Der Zeitgeist. Was braucht es, um so ne Overstory zu verändern? Kann ne Geschichte in dieser Größenordnung umgeschrieben werden, so dass sich die Denkweise der Menschen ändert?

Ich glaube, ja.

Aber wir greifen vor.

Unsere Erinnerungen an den Holocaust haben nen seltsamen "Rhythmus". Der prägende Roman des Ersten Weltkriegs war Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues". Der kam 1928 raus – zehn Jahre nach dem Krieg. Dieser "Rhythmus" der Erinnerung ist typisch. Die USA zogen sich 1973 aus Vietnam zurück. Die kulturell einflussreichsten Filme über den Krieg kamen 1978 und 1979 raus. 1982 gab's ne Gedenkstätte für den Vietnamkrieg in Washington.

Aber der Holocaust war anders. In den 50ern gab es ne Broadway-Produktion von "Das Tagebuch der Anne Frank". In den 60ern drehte Sidney Lumet den Film "Der Pfandleiher" über nen Überlebenden der Konzentrationslager. Aber der Film war kein großer Erfolg, und jüdische Gruppen forderten sogar nen Boykott. Es gab ein paar andere Romane und Filme, aber nichts kulturell Bedeutendes. Es ging nicht darum, dass die Leute den Holocaust leugneten. Sondern dass sie nichts davon wussten. Oder sie wussten davon, wollten aber nicht darüber reden.

In den 60ern verwendete nen angesehener Historiker in seinem Buch über Europa nach dem Ersten Weltkrieg nicht einmal das Wort "Holocaust". Er erwähnte die Konzentrationslager nur kurz.

Ähnlich war es mit nem Geschichtsbuch aus den 60ern. Da wurde der Holocaust in nem einzigen Absatz abgehandelt, ohne den Antisemitismus zu betonen.

"Hinweise auf 'Auschwitz' oder 'Konzentrationslager' sind selten", schrieb nen Historiker 1970, nachdem er dutzende Geschichtsbücher gelesen hatte.

Sogar innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gab es nen Widerwillen, öffentlich darüber zu sprechen.

Hier ist Renée Firestone, auch ne Überlebende, die über ihren Weg spricht, offen über das zu reden, was ihr passiert war.

Sie lebte nen glamouröses Leben als Modedesignerin, bis sie vom Simon Wiesenthal Center gebeten wurde, ihre Geschichte zu erzählen. Und sie lachte und sagte: "Warum sollte ich jetzt anfangen, über diese schrecklichen Tage zu reden?"

Und der Rabbi erzählte ihr, dass in der Nacht nen jüdischer Friedhof geschändet worden war und Hakenkreuze an ne Synagoge gesprüht worden waren. Und als sie das Wort Hakenkreuz hörte, wurde sie wahnsinnig.

Und in der Nacht war sie wieder im Lager, in ihrem Albtraum. Am nächsten Morgen rief sie den Rabbi zurück und sagte: "Ich bin bereit zu reden."

Sie wollte sich auf ne Familie konzentrieren. Sie und andere Überlebende wollten ne neue Nation gründen. Also konzentrierten sie sich darauf.

Und sie redete nicht über den Holocaust, nicht mal mit ihrem eigenen Kind.

Lidia Budgor überlebte das Ghetto Lodz, Auschwitz, Stutthof, den Todesmarsch und Typhus. Sie sah fast ihre ganze Familie sterben. Der Interviewer fragte nach ihrem Sohn.

Interviewer: Haben Sie Beno vom Holocaust erzählt?

Budgor: Ja, wir haben darüber geredet.

Interviewer: In welchem Alter?

Budgor: High School.

Interviewer: Was hat er gesagt?

Budgor: Er wusste, dass ich immer involviert war.

Interviewer: Wie hat er das verkraftet, das Kind ner Überlebenden zu sein?

Budgor: Keine Reaktion. Hat ihn nicht berührt.

Keine Reaktion? Welche Version der Geschichte hat sie ihm erzählt?

"Als ich anfing, darüber zu sprechen", sagte Masha Loen, "gab es Leute, die nicht mal wussten, dass es nen Holocaust gab."

Heute sprechen wir von dem Völkermord in Europa als dem "Holocaust" – mit großem H. Aber in den Jahren nach dem Krieg wurde das, was in den Konzentrationslagern geschah, als "die Nazi-Gräueltaten" oder "die Schrecken" bezeichnet, oder mit dem Begriff, den die Nazis selbst verwendeten, "Die Endlösung". Hätte man in der Nachkriegszeit das Wort Holocaust benutzt, hätte niemand gewusst, wovon man redet.

Schaut euch mal ne Grafik an, die zeigt, wie oft die Begriffe "holocaust" und "Holocaust" im Laufe der Jahre in gedruckter Form erschienen sind. Die klein geschriebene Version kommt ab und zu vor. Die groß geschriebene Version wird erst in den späten 60ern verwendet.

Aber um 1978 passiert was Dramatisches. Die Holocaust-Linie geht fast senkrecht nach oben. Was ist 1978 passiert?

1976 gingen zwei Führungskräfte von NBC an nem Buchladen vorbei und sahen ein Buch über die jüdische Erfahrung im Zweiten Weltkrieg. Einer der Führungskräfte war Paul Klein, der fürs Programm verantwortlich war. Der andere war sein Chef, Irwin Segelstein, der die Planung leitete. Die beiden entschieden, was im Fernsehen lief.

Segelstein sah sich das Buch an, drehte sich zu Klein um und sagte: "Warum machen wir das nicht?"

Und Klein antwortete: "Sollten wir."

Segelstein hatte nen rötlichen Bart und ne große Brille. Er war mollig und unbändig. Er hatte in der Werbung angefangen.

Klein holte Segelstein jeden Morgen in seinem Mercedes ab. Die beiden waren sich einig. Klein war der Intellektuellere von beiden. Er war berühmt dafür, dass er sagte, die Hälfte des amerikanischen Publikums seien "Idioten". Er war bekannt dafür, dass er die Theorie der am wenigsten anstößigen Programmgestaltung vertrat, nach der der Erfolg ner Fernsehsendung davon abhing, wie wenige Leute sie verärgerte.

Das waren keine Männer mit Prinzipien. Sie verstanden den amerikanischen Zeitgeist. Sie wussten, was die Öffentlichkeit wollte – und sie waren sehr gut darin. Segelstein hatte auch nen Onkel, ne Tante und drei Cousins in Auschwitz verloren. Er wusste, was in Europa passiert war. Und was Irwin Segelstein meinte, als er auf das Buch im Schaufenster deutete und sich zu Paul Klein umdrehte, war: Glauben wir, dass die amerikanische Öffentlichkeit endlich bereit ist, davon zu hören? Und Kleins Antwort bedeutete: Ich glaube, sie ist es.

Das Ergebnis war ne Miniserie namens "Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss". Sie erzählte die Geschichte der Familie Weiss – ner wohlhabenden Berliner Familie – und von Erik Dorf, nem aufstrebenden Nazi-Beamten. Meryl Streep spielte mit. Die Produktion kostete 6 Millionen Dollar – nen Vermögen zu der Zeit – und dauerte über 100 Drehtage. Vieles wurde im Konzentrationslager Mauthausen in Österreich gedreht.

Meryl Streep sagte später, dass das Drehen am Ort nem Todeslager "zu viel für mich war". Der Regisseur, Marvin Chomsky, heuerte Statisten an, um die Lagerinsassen zu spielen. Er warnte sie, dass sie sich ausziehen und zu Tode geschossen werden müssten.

Chomsky musste immer wieder mit Unglauben unter der Crew konfrontieren. Sie waren extra nach Österreich gereist, um am Ort nem Konzentrationslager zu drehen, aber die Crew konnte immer noch nicht glauben, dass die Geschichte wahr war. Sie sahen sich Fotos an, die bei der Befreiung der Lager gemacht worden waren, und schüttelten den Kopf. Chomsky erinnert sich, dass sie sagten:

"Das ist alles von amerikanischen oder britischen Fotografen gefälscht. Alles erfunden, das ist nie passiert. Die Leichenberge in Bergen-Belsen hat es nie gegeben."

Die Miniserie war neuneinhalb Stunden lang. NBC war nervös, weil sie kurz zuvor ne andere lange Miniserie über Martin Luther King Jr. ausgestrahlt hatten, und das war nen Quotenflop gewesen. "Holocaust" wurde an vier aufeinanderfolgenden Abenden auf NBC ausgestrahlt.

Die Serie hat die Nazi-Endlösung nicht beschönigt.

Der Holocaust-Überlebende und Aktivist Elie Wiesel nannte "Holocaust" "unwahr, beleidigend, billig" und "ne Beleidigung für die, die umgekommen sind, und für die, die überlebt haben". In gewisser Weise hatte er Recht – es war die Fernsehversion der Geschichte. Aber Wiesel verstand den Punkt nicht: Es war das erste Mal, dass die meisten Amerikaner überhaupt vom Holocaust gehört hatten.

Die Szene mit Blobel und Dorf dauerte unangenehm lange. Wir sehen, wie Soldaten die Leichen ausplündern, die Zuschauer trinken und rauchen, als wären sie bei nem Fußballspiel.

Und wann wurde die Miniserie "Holocaust" ausgestrahlt? Am 16. April 1978.

Es ist schwer zu akzeptieren, dass die Welt durch ne Fernsehsendung verändert werden kann. Das Publikum ist zwischen Kabel, Streamingdiensten und Videospielen aufgesplittert.

Aber vor ner Generation war Fernsehen was ganz anderes. Das Serienfinale von M\*A\*S\*H im Jahr 1983 erreichte 106 Millionen Zuschauer. Das waren über 45 Prozent der amerikanischen Bevölkerung. Das ist Macht.

Die beliebtesten Sendungen im Fernsehen waren erfolgreicher als der Super Bowl heute. Das waren Schmelztiegel. Wie vorindustrielle Religion, ganze Gemeinschaften versammelten sich, um dieselben Botschaften aufzunehmen.

Wenn ne große Gruppe von Menschen die gleichen Geschichten sieht, bringt das sie zusammen.

Die Geschichten im Fernsehen prägten die Art von Dingen, über die die Leute nachdachten, die Gespräche, die sie führten, die Dinge, die sie schätzten, die Dinge, die sie ablehnten. Und diese gemeinsame Erfahrung war so mächtig und transformativ, dass das Wissen darüber, wie viel Fernsehen jemand sah, nen besserer Indikator dafür war, wie sie aktuelle Probleme sahen, als zu wissen, wen sie bei den letzten Wahlen gewählt hatten.

Wir müssen den Liedern, die wir singen, mehr Aufmerksamkeit schenken.

Zurück zum L.A. Überlebenden-Club. Das war ne Gruppe von Leuten, die ne schreckliche Erfahrung überlebt hatten. Es ist leicht, sich vorzustellen, dass diese Gruppe ne Million verschiedene Reaktionen auf das hätte haben können, was sie durchgemacht hatten. Einige wollten die Welt informieren, andere wollten weitermachen. Aber es gab keinen solchen Unterschied: In der Nachkriegszeit gab es ne Art Übereinkunft, nicht darüber zu sprechen.

Das war das, was nen Historiker meinte, als er den seltsamen "Rhythmus" der Holocaust-Erinnerung erwähnte. Es geht um die Auswirkungen ner Overstory.

Das American Jewish Committee (AJC) lud einige der Top-Wissenschaftler der damaligen Zeit ein, um zu lernen, wie man den Hass auf Juden bekämpfen kann. Der Konsens war, dass der Antisemitismus durch ne Wahrnehmung jüdischer Schwäche angetrieben wird. Jüdische Organisationen sollten vermeiden, den Juden als schwach, als Opfer darzustellen.

In den späten 40ern gab es nen Vorschlag, in New York City ne Holocaust-Gedenkstätte zu bauen. Das AJC lehnte die Idee ab, weil man befürchtete, dass so nen Denkmal dazu führen würde, dass Amerikaner Juden als Opfer sehen.

Diese Haltung ist verständlich. Sie war notwendig. Sig Halbreich zog weg, um dem zu entkommen, was er als aufdringliches Interesse an seiner Vergangenheit empfand.

Als der Überlebenden-Club zum ersten Mal zusammenkam, waren ihre Diskussionen über den Holocaust privat. Es war die Art von Gespräch, die man nur mit jemandem führen kann, der die gleiche Erfahrung gemacht hat.

Sie sprachen miteinander darüber, aber es gab immer noch Angst und Scham. Sie schämten sich für ihre Akzente, für ihre Tattoos. Sie schämten sich dafür, dass ihre Kinder keine Großeltern hatten. Ich weiß nicht, warum sie sich so gefühlt haben, aber es war so.

Das war die Overstory der Überlebenden: Was in den Lagern geschehen war, war zu überwältigend, zu weit außerhalb jeder Vorstellungskraft, und der einzig mögliche Weg war der nach vorne. Gleichzeitig hatten diejenigen, die das nicht durchgemacht hatten, ihre eigene Overstory. Die Geschichtsbücher aus den 60ern, die den Holocaust auf ein paar Sätze reduzierten, wurden von Historikern geschrieben, die wussten, wie man über Politik und Wirtschaft schreiben konnte. Aber sie hatten nicht die Sprache, um die Erfahrung der Lager zu beschreiben.

Nach dem Krieg war Halbreich Dolmetscher für General Dwight Eisenhower. Eisenhower bemerkte Halbreichs KZ-Tätowierung und fragte: "Hat es sehr wehgetan, als sie Ihnen diese Nummer auf den Arm tätowiert haben?"

Halbreich dachte: "Meine Güte, was sind das für Leute, die Amerikaner? Sie sehen, was hier los ist, voller Leichen und er fragt, ob das wehgetan hat?" Aber später verstand er, dass er keine Ahnung hatte. Es war seltsam für die Amerikaner, mit so was konfrontiert zu werden. Eisenhower wusste auch nicht, wie er über das sprechen sollte, was um ihn herum war.

Am tiefsten war das Schweigen in Deutschland. Die Deutschen hatten ihre eigene Scham zu bewältigen. In der Nähe des Konzentrationslagers Bisingen in der Nähe der französischen Grenze gab es nach dem Krieg ne lange Debatte darüber, was auf das Schild vor dem Friedhof kommen sollte, auf dem einige der Opfer des Lagers ruhten. Sie einigten sich auf Ehrenfriedhof, da es "absolut angebracht war, die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus in der Bevölkerung wachzuhalten". Sie sahen aber keinen Grund, "die Verbrechen des Nationalsozialismus den Ausländern zu zeigen, die in großer Zahl auf der Bundesstraße 27 unterwegs sind, die als internationale Durchgangsstraße dient".

Die Gemeinde pflanzte dann tausende Bäume und Hecken, die bald Teile des Lagers überwucherten. Der Fußballverein Bisingen baute nen Spielfeld über nem Kohlenmeiler, in dem die Häftlinge gezwungen worden waren, Schiefer abzubauen. In der Nähe wurde ne kleine Steinpyramide mit der Aufschrift aufgestellt: Wanderer, wenn du hier vorbeikommst, erinnere dich an diejenigen, deren Leben genommen wurde, bevor sie es sinnvoll gelebt hatten. Sie konnten andeuten, was passiert war, aber sie konnten es nicht aussprechen.

Stellt euch vor, wie es sich Mitte der 70er anfühlen musste, wenn man der Welt vom Holocaust erzählen wollte. Dreißig Jahre waren seit dem Ende des Krieges vergangen. Historiker ignorierten das Thema. Die Überlebenden wollten nicht darüber reden. Hollywood schwieg weitgehend. In Deutschland übten Fußballmannschaften auf dem Gelände verlassener Konzentrationslager. Alles, was die USA hatten, war nen provisorisches Museum in Los Angeles. Der Holocaust hatte nicht mal nen Namen.

Vielleicht wäre es besser gewesen zu fragen, wie die Art und Weise, wie die Welt über den Holocaust dachte, verändert werden konnte.

Und so öffnete der Überlebenden-Club in Los Angeles die Türen zu seinem kleinen Museum.

"Ich glaube, sie waren schockiert, dass sich überhaupt jemand dafür interessierte", sagte Lithgow. "Ich glaube, sie waren wirklich erstaunt, dass sich die Leute kümmerten und dass sich jemand für sie interessierte."

Aber die Leute interessierten sich, und die Holocaust-Überlebenden lernten, dass es wirklich möglich war, vom Unaussprechlichen zu sprechen. Die Zahlen, die auf ihre Arme tätowiert waren, waren nicht peinlich. Eine Erinnerung noch mal zu erleben, war kein Zeichen von Schwäche.

In den nächsten zwei Jahrzehnten begann sich diese Idee langsam zu verbreiten. Außerhalb von Chicago versuchte ein Auschwitz-Überlebender namens Zev Weiss, Colleges davon zu überzeugen, Kurse über den Holocaust anzubieten. Zuerst wurde er, wie er sich später erinnerte, mit "Ausflüchten, Aufschüben und allgemeinem Desinteresse" empfangen. Aber er gab nicht auf. Er reiste durchs Land, um bei Colleges Lobbyarbeit zu betreiben, schlief manchmal sogar in seinem Auto.

Mitte der 70er arbeiteten jüdische Gruppen mit dem Kongress zusammen, um den Jackson-Vanik Amendment zu verabschieden, ein Gesetz, das die Sowjetunion dazu drängte, ihre Auswanderungsbestimmungen zu lockern, so dass hunderttausende russische Juden nach Israel und in die Vereinigten Staaten auswandern konnten. Dann beantragte 1977 ne Gruppe von Neonazis ne Genehmigung, durch Skokie, Illinois, zu marschieren, nen jüdischen Vorort von Chicago. Die Stadt ignorierte den Marsch nicht, sondern wehrte sich. Irgendwas hatte sich verändert, und das führte dazu, dass Paul Klein und Irwin Segelstein vor dem Buchladen anhielten und ihre schicksalhafte Entscheidung trafen.

Die beiden TV-Manager warteten nicht ab, um zu sehen, ob sie Beweise für die gleichen Regungen außerhalb der jüdischen Gemeinschaft finden konnten. Sie schufen eines der verheerendsten und unerschrockensten Geschichtsseminare der modernen Geschichte. Es wurde an vier aufeinanderfolgenden Abenden ausgestrahlt und 120 Millionen Menschen – die Hälfte des Landes – schalteten ein.

In Deutschland, wo "Holocaust" im Januar des folgenden Jahres ausgestrahlt wurde, war der Effekt noch stärker. Die Sendung lief spät in der Nacht, fast Mitternacht, auf nem wenig beachteten Sender von Regionalfernsehstationen – und trotzdem hatten bis zum Ende 15 Millionen Westdeutsche, etwa ein Viertel des Landes, eingeschaltet. Sie wurde als "das deutsche TV-Ereignis der 70er" bezeichnet. Zeitschriften und Zeitungen brachten Sonderausgaben und -teile zum Thema "Holocaust" heraus. Tausende Zuschauer, einige von ihnen in Tränen, riefen bei ihren lokalen Fernsehsendern an. Neonazi-Gruppen verübten Bombenanschläge auf Fernsehsender, um die Ausstrahlung der Sendung zu verhindern. Schuldgeplagte Veteranen drohten mit Selbstmord. Ein ehemaliger SS-Offizier berichtete, dass seine Frau und seine vier Kinder ihn nach der zweiten Folge als "alten Nazi" bezeichneten und ihn verließen. In Deutschland stand die Verjährungsfrist für die Verfolgung ehemaliger Kriegsverbrecher kurz vor dem Ablauf. Nach "Holocaust" änderte der Bundestag seine Meinung und schaffte die Verjährungsfrist ab.

Heute gibt es in Bisingen nen richtiges Museum an der Stelle des ehemaligen Lagers, eines von tausenden Holocaust-Gedenkstätten und -Museen, die seitdem in ganz Deutschland gebaut wurden.

Viele Jahre nach der Ausstrahlung von "Holocaust" wurde Herbert Schlosser, der ehemalige Chef des Fernsehsenders NBC, darüber interviewt, wie die Sendung ins Programm kam. Er gab die Ehre weiter, außer für eine Sache. In den ersten Diskussionen über die Serie hatte das Drehbuch den Titel "Holocaust". Aber als die Drehbücher fertig waren, war das Wort gestrichen worden.

"Eines Tages kam nen Stapel Drehbücher bis hierher an meine Tür", erinnerte sich Schlosser. "Und ich hab einen Beitrag dazu geleistet. Ich las die Drehbücher. Aber mir fiel auf, dass die Sendung nicht 'Holocaust' hieß. Sie hieß 'Die Familie Weiss', das ist der Name der Familie, die in der Serie den Holocaust durchmacht. Also rief ich den Produzenten an und sagte: 'Ihr wollt sie doch nicht 'Die Familie Weiss' nennen.'"

Schlosser wollte zu dem Namen zurückkehren, den das Drehbuch ursprünglich hatte. "Nennt sie 'Holocaust'", wies er den Produzenten an.

Und deshalb nennen alle den Holocaust, den Holocaust. Schaut euch die Liste der amerikanischen Museen an: Nach 1978 verwendeten alle den Begriff "Holocaust" in ihrem Namen. Sogar das ursprüngliche Museum in Los Angeles änderte seinen Namen von Martyrs Memorial Museum in Los Angeles Museum of the Holocaust. Das Massaker, über das niemand zu sprechen wusste, hatte jetzt nen Namen. Und warum? Weil nen Fernsehmanager fand, dass es besser klang als "Die Familie Weiss".

Das können Geschichtenerzähler bewirken. Sie können die Overstory verändern.

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