Chapter Content
Also, stell dir vor, da wird ein Arzt, der Donald Redelmeier, zu ner jungen Frau gerufen, die total durch den Wind ist, ne? Die hatte wohl Stunden vorher nen heftigen Autounfall, Frontalcrash, und der Krankenwagen hat sie sofort ins Sunnybrook Hospital gebracht. Und, naja, die hatte echt üble Brüche, überall. Knöchel, Fuß, Hüfte, Gesicht, alles gebrochen. Rippen hatten die Ärzte erst mal übersehen. Und dann, kurz vor der OP, haben die auch noch Herzprobleme festgestellt.
Das Sunnybrook, das ist so das größte Traumazentrum in Kanada, voll die Institution, rote Backsteine, liegt so am Stadtrand von Toronto. Ursprünglich war das ja mal für die Kriegsheimkehrer aus dem Zweiten Weltkrieg gedacht, aber dann, als die Veteranen halt älter wurden, hat sich das so gewandelt. In den 60ern haben die da so ne mega Autobahn gebaut, die 401, 24 Spuren breit, voll das Ding, und die ging direkt am Krankenhaus vorbei. Tja, und dann war Sunnybrook plötzlich *das* Krankenhaus für Verkehrsunfälle auf der 401. Hat sich echt nen Namen gemacht, die waren da richtig gut drin. Und dadurch kamen natürlich auch alle möglichen anderen Trauma-Fälle dazu. Am Ende war das Sunnybrook halt nicht nur für Autounfälle da, sondern auch für Selbstmordversuche, Polizeieinsätze, ältere Leute, die gestürzt sind, Schwangere mit Komplikationen, Bauarbeiterunfälle und diese Schneemobil-Unfälle, die's da oben in Nordkanada so oft gibt, wo's total unwegsam ist. Und bei all diesen Fällen haben die Ärzte dann oft noch ganz andere, unerwartete Probleme entdeckt. Viele Patienten hatten halt einfach mehrere Sachen gleichzeitig.
Und da kommt dann Redelmeier ins Spiel. Der war eigentlich Allgemeinmediziner, hat sich dann aber auf Innere Medizin spezialisiert. Im Sunnybrook hat er sich dann unter anderem damit beschäftigt, die Denkfehler von anderen Ärzten zu analysieren. Wie ein Epidemiologe vom Sunnybrook, Rob Fowler, mal gesagt hat: "Er hat im Grunde die Leute beim Denken beobachtet. Man musste ehrlich zu ihm sein. Und am Anfang waren alle so, 'Was ist denn das für einer? Warum gibt der mir Feedback?' Aber beim zweiten Mal war's dann eigentlich ganz cool." Redelmeier fand's gut, dass die Ärzte im Sunnybrook überhaupt bereit waren, ihr Denken zu hinterfragen. Das war echt nen Fortschritt, weil früher, in den 80ern, da waren die Ärzte ja noch die unfehlbaren Autoritäten. Aber im Sunnybrook, einem der besten Traumazentren Kanadas, war das Überprüfen von ärztlichen Fehlern mittlerweile echt wichtig. Das Krankenhaus war halt nicht mehr nur ein Ort, wo man krank hingegangen ist und gesund wieder raus, sondern eher so ne riesige Maschine, die mit Unsicherheit umgehen musste. Und Redelmeier meinte halt: "Wo Unsicherheit ist, da gibt's auch Entscheidungen. Und wo Entscheidungen sind, da kann man halt auch Fehler machen."
Es ist ja so, dass in Nordamerika mehr Patienten im Krankenhaus an vermeidbaren Fehlern sterben als durch Verkehrsunfälle. Das sagt schon einiges aus. Redelmeier hat oft gesagt, dass Patienten oft "sekundäre Verletzungen" erleiden, wenn sie von einem Krankenhaus ins nächste verlegt werden, ohne dass man sich richtig um sie kümmert. Oder wenn Ärzte sich nicht die Hände waschen, bevor sie nen Patienten anfassen, das kann echt katastrophal sein. Sogar diese Knöpfe im Fahrstuhl, die sind voller Bakterien. Redelmeier hat da sogar mal nen Artikel drüber geschrieben, "Die Bakterielle Flora auf Aufzugsknöpfen in Krankenhäusern". Er hat da mit Wattestäbchen Proben von Aufzugsknöpfen und Toilettendeckeln in drei großen Krankenhäusern in Toronto genommen, und die Fahrstuhlknöpfe waren echt der absolute Keimherd.
Aber was Redelmeier am meisten beschäftigt hat, waren Fehldiagnosen. Ärzte sind ja auch nur Menschen, und manchmal merken sie gar nicht, dass die Informationen, die sie von den Patienten bekommen, vielleicht gar nicht stimmen. Patienten sagen zum Beispiel oft, dass es ihnen besser geht, obwohl es eigentlich gar nicht so ist. Oder Ärzte konzentrieren sich auf die Details, die sie halt so sehen wollen, und übersehen das große Ganze. Ein Stationsarzt, Jones Pasca, hat mal gesagt: "Donald hat mir beigebracht, wie wichtig es ist, das Zimmer des Patienten zu beobachten, wenn der nicht da ist. Was steht da so rum? Ist der Teller leer? Hat der viel Gepäck? Ist das Zimmer ordentlich oder chaotisch? Einmal wollten wir nen Patienten wecken, und Donald hat mich aufgehalten. Er hat gesagt, man kann auch einfach nur beobachten."
Ärzte neigen halt dazu, die Sachen aus ihrer eigenen Perspektive zu sehen, und das kann gefährlich sein. Sie behandeln die Krankheit, die sie sehen, und vergessen vielleicht, dass da noch was anderes im Busch ist. Manchmal sind die versteckten Gefahren halt die schlimmsten.
Diese Unfälle auf der 401, die sind ja oft echt heftig. Die schlimmste Verletzung, die ist dann so im Fokus, ne? Aber bei dieser jungen Frau mit den ganzen Knochenbrüchen, als die ins Sunnybrook kam, da haben die Ärzte gemerkt, da ist noch mehr im Argen. Ihr Herz, das hat total verrückt gespielt, mal fast stillgestanden, mal total gerast. Da war klar, die hat nen richtiges Problem.
Kurz nachdem Redelmeier dazu gerufen wurde, hatten die Ärzte dann auch schon ne Diagnose – oder zumindest dachten sie das. Die junge Frau war noch ansprechbar und hat erzählt, dass sie mal ne Schilddrüsenüberfunktion hatte. Schilddrüsenüberfunktion, das kann zu Herzrhythmusstörungen führen. Die Ärzte dachten, super, das ist die Ursache, jetzt können wir das behandeln. Und wenn Redelmeier jetzt gesagt hätte, "Ja, gebt ihr die Medikamente gegen die Schilddrüse", da hätte wahrscheinlich keiner was gesagt. Aber Redelmeier hat gesagt, "Leute, langsam, erstmal nachdenken. Lasst uns mal unsere Annahmen überprüfen, sind wir uns da wirklich sicher?"
Er hat später gesagt, ihn hat da irgendwas gestört. "Schilddrüsenüberfunktion, das ist zwar ne mögliche Ursache für Herzrhythmusstörungen, aber nicht die wahrscheinlichste." Die Ärzte im Notfallraum haben halt einfach zu schnell auf die Schilddrüse reagiert. Die haben gar nicht überlegt, was sind denn eigentlich die häufigsten Ursachen für Herzrhythmusstörungen? Redelmeier hat halt gemerkt, Ärzte denken selten statistisch. "80 % der Ärzte denken, dass Wahrscheinlichkeiten nicht auf ihre Patienten zutreffen," hat er mal gesagt, "und 95 % der Ehepaare denken, dass die Scheidungsrate von 50 % nicht auf sie zutrifft. Und obwohl die Wahrscheinlichkeit für nen Autounfall unter Alkoholeinfluss viel höher ist, denken 95 % der betrunkenen Autofahrer, dass ihnen nix passiert."
Also, hat Redelmeier gesagt, wir müssen mal statistisch denken, was könnte das noch sein? Und dann haben sie festgestellt, ihre Lunge, die war total im Eimer. Auf dem Röntgenbild sah man, dass die total zerfetzt war. Die gebrochenen Rippen, die konnte man reparieren, aber die kaputte Lunge, die hätte sie umbringen können. Redelmeier hat die Schilddrüse erst mal vergessen und sich auf die Lunge konzentriert. Und plötzlich hat sich ihr Herzschlag wieder normalisiert. Und am nächsten Tag kam dann der Befund von der Schilddrüse: Alles in Ordnung. Die hatte gar keine Schilddrüsenüberfunktion. "Das ist ein klassischer Fall von Repräsentativitätsheuristik," hat Redelmeier gesagt, "wenn dir ne Diagnose so in den Kopf schießt und alles so logisch erklärt, dann musst du besonders vorsichtig sein. Dann musst du dein Denken überprüfen."
Das heißt natürlich nicht, dass die erste Idee immer falsch ist. Aber diese Idee kann dich halt total davon überzeugen, dass du Recht hast. Redelmeier sagt: "Wenn du nen manisch-depressiven Alkoholiker in der Notaufnahme hast, dann musst du vorsichtig sein. Weil du denkst, 'Ah, der ist halt betrunken', und übersiehst vielleicht ein subdurales Hämatom." Der behandelnde Arzt von der jungen Frau hat sich halt auch zu sehr auf ihre Krankengeschichte verlassen und die Basisrate ignoriert. Daniel und Amos, die haben ja schon gesagt, man muss die Basisrate berücksichtigen, es sei denn, man ist sich hundertprozentig sicher. Und Redelmeier war sich nie hundertprozentig sicher, weder im Krankenhaus noch sonst wo. Und er fand, das sollte man auch nicht sein.
Redelmeier ist in Toronto aufgewachsen, in so nem alten Haus, das schon seit Generationen in der Familie war. Sein Vater war Börsenmakler. Er war der Jüngste von drei Brüdern und hat sich immer ein bisschen dumm vorgekommen. Seine Brüder, die wussten irgendwie alles und haben ihm immer alles erklärt. Und Redelmeier hat auch noch gestottert, was er aber immer versucht hat, zu überspielen (wenn er im Restaurant angerufen hat, um zu reservieren, hat er sich immer nur "Don Red" genannt). Durch das Stottern musste er halt langsamer reden, und seine Rechtschreibschwäche hat ihn dazu gezwungen, langsamer zu schreiben. Er war auch nicht besonders sportlich, und in der fünften Klasse hat er ne Brille bekommen. Aber er war halt intelligent und hatte nen gutes Gemüt. In Mathe war er richtig gut, und er hat den anderen Schülern immer geholfen, wenn die Fragen hatten. Und er war halt total rücksichtsvoll und hilfsbereit, schon als Kind. Wenn er mit anderen zusammen war, hat er immer erst mal geguckt, wie er denen helfen kann.
Aber selbst in Mathe, wo er ja eigentlich total sicher war, hat ihn die Unsicherheit geplagt, er hatte immer Angst, Fehler zu machen. In Mathe gibt's halt nur richtig oder falsch, nix dazwischen. "Manchmal spürst du, dass du nen Fehler machst," hat er gesagt, "aber trotzdem schleichen sich die Fehler immer näher, bis du irgendwann total im falschen Film bist." Er hat halt so viele Fehler gemacht in seinem Leben. Und vielleicht war das der Grund, warum er diesen einen Artikel so gut verstanden hat. Ende 1977 hat ihm sein Lieblingslehrer in der High School, Mr. Flemming, nen Artikel in der Zeitschrift "Science" empfohlen. Und am selben Abend hat er den dann auch gelesen.
Der Artikel hieß "Urteilen unter Unsicherheit: Heuristiken und Verzerrungen". Heuristiken, was war das denn überhaupt? Für den 17-jährigen Redelmeier waren da schon ein paar Fachbegriffe dabei, die er nicht so ganz verstanden hat. In dem Artikel ging's um drei Arten, wie Menschen in unsicheren Situationen Entscheidungen treffen. Und die Namen für diese drei Arten, Repräsentativität, Verfügbarkeit und Verankerung, die waren total komisch, aber irgendwie auch faszinierend. Und Redelmeier hat gemerkt, die Autoren, die haben Recht. Er hat, wie die meisten Leute, auch bei diesem fiktiven Mann namens "Dick" gedacht, dass der Anwalt und Ingenieur gleichermaßen wahrscheinlich ist, obwohl er ja aus ner Gruppe von Anwälten kommt. Und er hat auch, wie die meisten, anders geurteilt, wenn er nutzlose Informationen bekommen hat, als wenn er gar keine Informationen hatte. Und er hat auch gedacht, dass es in nem englischen Text mehr Wörter gibt, die mit K anfangen, als Wörter, bei denen K an dritter Stelle steht, weil ihm die Wörter mit K am Anfang leichter eingefallen sind. Er hat sich auch, einfach nur aufgrund von ner Beschreibung, total sicher gefühlt bei seinem Urteil über ne Person – und das, obwohl Redelmeier ja eigentlich total unsicher war. Und als er schnell 1×2×3×4×5×6×7×8 ausrechnen sollte, hat er auch gedacht, dass das Ergebnis kleiner ist als bei 8×7×6×5×4×3×2×1.
Was Redelmeier aber nicht so beeindruckt hat, war die Idee, dass Menschen Fehler machen. Natürlich machen Menschen Fehler! Was ihn so umgehauen hat, war die Idee, dass Fehler vorhersagbar sind, dass sie systematisch sind. Dass sie irgendwie zur menschlichen Natur dazugehören. Durch den Artikel in "Science" hat Redelmeier all seine Mathefehler noch mal Revue passieren lassen. Und im Nachhinein waren das alles total offensichtliche Fehler, weil die meisten Leute die halt auch machen. Besonders ne kleine Passage über die "Verfügbarkeit", wo's drum ging, welche Rolle die Vorstellungskraft bei Fehlern spielt, die hat ihn total beeindruckt. Da stand: "Wenn man zum Beispiel die potenziellen Gefahren ner Expedition vorhersagen will, dann stellt man sich immer die schlimmsten Sachen vor, die man sich so vorstellen kann. Und wenn diese Gefahren dann so richtig bildhaft vor Augen stehen, dann wirkt die Expedition total gefährlich, auch wenn die Gefahren gar nicht so wahrscheinlich sind. Und umgekehrt, wenn man sich irgendwelche Schwierigkeiten nicht so gut vorstellen kann, dann unterschätzt man das Risiko total."
Das war halt nicht nur die Frage, ob's mehr Wörter mit K am Anfang gibt, sondern ne Frage von Leben und Tod. "Ich bin ja totaler Kinofan," hat Redelmeier gesagt, "aber dieser Artikel, der hat mich mehr umgehauen als jeder Film."
Die Autoren, Daniel Kahneman und Amos Tversky, von denen hatte Redelmeier noch nie was gehört. Er wusste nur aus ner kurzen Beschreibung, dass die beiden Psychologieprofessoren an der Hebräischen Universität in Jerusalem waren. Aber Redelmeier war viel wichtiger, dass seine beiden Brüder die auch nicht kannten. "Haha, da gibt's ja doch noch Leute, die die nicht kennen. Ich hab sie übertroffen!" hat er sich gedacht. Die Forschung von Kahneman und Tversky, das war wie so nen geheimer Einblick in die Denkprozesse. Deren Artikel zu lesen, das war, als würde man hinter die Kulissen von nem Zauberer gucken und sehen, wie der seine Tricks macht.
Redelmeier hatte sich eigentlich nie so richtig Gedanken über seine berufliche Zukunft gemacht. Als Kind fand er die Ärzte in den Fernsehserien immer total cool, zum Beispiel Dr. McCoy aus "Star Trek" oder Hawkeye Pierce aus "M*A*S*H". "Ich hatte da so nen kleinen Heldenkomplex," hat er gesagt, "aber ich konnte das ja nicht auf dem Sportplatz ausleben, oder in der Politik, oder im Film. Arzt, das war die einzige Möglichkeit, meine Ambitionen zu verwirklichen." Er wollte unbedingt Arzt werden, so sehr, dass er sich schon mit 19, im zweiten Studienjahr, an der medizinischen Fakultät beworben hat. Und ein Jahr später, kurz nach seinem 20. Geburtstag, hat er dann mit dem Medizinstudium an der Universität von Toronto angefangen.
Und da kam dann das Problem: Die Ärzte an der medizinischen Fakultät, die hatten irgendwie gar nix mit Dr. McCoy oder Hawkeye Pierce gemeinsam. Die waren meistens total selbstgefällig, manche sogar richtig arrogant, und Redelmeier fand das total abschreckend. "Früher, an der medizinischen Fakultät, da habe ich es nicht gewagt, irgendwas zu sagen, wenn irgendwelche Professoren was Falsches erzählt haben," hat er sich erinnert. Die haben da irgendwelche falschen Sachen erzählt, als wären das die absoluten Wahrheiten. Und bei der gleichen Krankheit haben die Experten aus den verschiedenen Fachbereichen total unterschiedliche Diagnosen gestellt. Der Professor für Urologie hat ihnen erzählt, Blut im Urin, das ist meistens Krebs. Und der Professor für Nephrologie hat gesagt, Blut im Urin, das ist meistens ne Glomerulonephritis, ne Entzündung der Nieren. "Die waren beide total selbstbewusst, aufgrund ihrer Expertise," hat Redelmeier gesagt, "und die haben beide nur das gesehen, was zu ihrem Fachbereich gepasst hat."
Das Problem war halt nicht, was die wussten oder nicht wussten, sondern ihr Bedürfnis nach Sicherheit, oder zumindest nach dem Schein von Sicherheit. Die standen da am Overheadprojektor und haben nicht unterrichtet, sondern gepredigt. "Die waren alle total arrogant," hat Redelmeier gesagt, "'Was, du hast keine Steroide genommen??!'" Redelmeier fand, diese Autoritäten in der Medizin, die haben irgendwie gar nicht gemerkt, dass es in der Medizin total viel Unsicherheit gibt.
Und das lag halt daran, dass das Eingeständnis von Unsicherheit bedeutet, dass man Fehler machen kann. Und die ganze Medizin versucht ja krampfhaft, so nen Bild von Weisheit zu vermitteln. Zum Beispiel, wenn nen Patient gesund wird, dann schreiben die Ärzte das immer ihrer Behandlung zu, auch wenn's gar keinen Beweis dafür gibt, dass der Patient wirklich durch ihre Behandlung gesund geworden ist. "Wenn es dem Patienten nach meiner Behandlung besser geht, dann heißt das ja nicht, dass es ihm wegen meiner Behandlung besser geht," hat Redelmeier gedacht. "Viele Krankheiten heilen ja von selbst," hat er gesagt, "die verschwinden einfach wieder. Die Leute wollen dann ne Behandlung, wenn's ihnen schlecht geht, und die Ärzte, die finden's dann gut, irgendwas zu machen. Der Patient kriegt Blutegel und es geht ihm besser, und der Patient kriegt für den Rest seines Lebens Blutegel. Der kriegt zu viele Antibiotika. Bei ner Ohrenentzündung kriegt der ne Mandeloperation. Und der Patient, dem geht's am nächsten Tag besser, und dann macht man das halt immer weiter so. Nach ner Therapie geht's dir besser, und du bist total überzeugt von der Wirksamkeit von Psychotherapie."
Redelmeier hat auch noch andere Probleme bemerkt. Zum Beispiel, die Professoren an der medizinischen Fakultät, die haben sich immer nur auf die oberflächlichen Werte konzentriert und nicht weiter darüber nachgedacht. Wenn da nen älterer Mensch mit ner Lungenentzündung zum Arzt kommt, dann misst der Arzt dessen Herzfrequenz, und wenn die dann so bei 75 Schlägen pro Minute liegt, was ja normal ist, dann behandeln die den so. Aber viele ältere Menschen sterben an Lungenentzündung, weil die halt total schlimm ist. Wenn man die kriegt, dann ist das Immunsystem im Eimer, man hat Fieber, hustet, hat Schüttelfrost, Schleim, und das Herz rast. Der Körper versucht ja, mit der Infektion fertig zu werden, und das Herz muss schneller Blut in alle Teile des Körpers pumpen. "Also, muss die Herzfrequenz bei nem älteren Menschen mit ner Lungenentzündung ja hoch sein!" hat Redelmeier gesagt, "Die darf nicht normal sein!" Wenn die Herzfrequenz aber normal ist, dann heißt das, dass das Herz Probleme hat. Aber in den meisten Unterlagen steht halt, das ist normal. Und gerade, wenn alles normal aussieht, dann vergessen die Experten, nachzudenken.
Und zufällig, zu dieser Zeit, hat sich so ne Bewegung namens "Evidenzbasierte Medizin" in Toronto entwickelt. Die Idee dahinter war, die Intuition von den Experten durch handfeste Daten zu überprüfen. Und als man dann alles mit wissenschaftlicher Genauigkeit untersucht hat, hat man festgestellt, dass so manche vermeintliche Weisheit totaler Quatsch war. Zum Beispiel, als Redelmeier 1980 mit dem Medizinstudium angefangen hat, da haben die Ärzte Herzpatienten mit Herzrhythmusstörungen immer mit Medikamenten behandelt. Sieben Jahre später, als Redelmeier dann sein Studium abgeschlossen hat, haben die Forscher festgestellt, dass die Herzpatienten, die wegen ihrer Herzrhythmusstörungen mit Medikamenten behandelt wurden, ne höhere Sterblichkeitsrate hatten als die, die keine Medikamente bekommen haben. Keiner konnte so richtig erklären, warum die Ärzte so lange diese tödliche Behandlungsmethode angewendet haben, obwohl die Anhänger der "Evidenzbasierten Medizin" schon angefangen haben, in den Werken von Kahneman und Tversky nach Antworten zu suchen. Aber es war klar, die Intuition von den Ärzten, die kann total daneben liegen: Die Erkenntnisse aus den medizinischen Tests, die müssen bei der Diagnose berücksichtigt werden. Redelmeier war total sensibilisiert für die Evidenz. "Ich hab angefangen zu merken, dass da was faul ist, dass da ganz viele Urteile aufgrund von sogenannten Expertenmeinungen gefällt werden," hat Redelmeier gesagt, "ich hab die Fehldiagnosen durch Denkfehler gesehen, und die Leute, die haben gar nicht gemerkt, dass die Fehler machen. Das hat mir Angst gemacht, das hat mich unzufrieden gemacht, ich hab gemerkt, da stimmt was nicht."
Am Ende von dem Artikel in "Science" haben Daniel Kahneman und Amos Tversky gesagt, dass auch erfahrene Leute Fehler machen, selbst wenn sie die simplen Fehler vermeiden können, die normale Leute machen. Selbst die intelligentesten Leute machen Fehler. Die haben gesagt: "Intuitive Urteile führen bei schwierigen Fragen oft zu ähnlichen Irrtümern." Redelmeier fand, diese Aussage erklärt total gut, warum auch die besten Ärzte Fehler machen. Er hat sich an seine Mathefehler erinnert. "In der Medizin gibt's das gleiche Problem," hat er gesagt, "beim Rechnen, da überprüfst du jeden Schritt. Aber beim Arzt machst du das halt nicht. In Mathe gibt's ne eindeutige Lösung. Und wenn wir schon in so nem Bereich Fehler machen, dann machen wir doch in anderen Bereichen, wo's nicht so ne eindeutige Lösung gibt, viel mehr Fehler, oder?" Fehler sind menschlich, man muss sich nicht dafür schämen. "Die haben beschrieben, wo man beim Denken so abbiegen kann, und warum. Und jetzt kann man über Fehler reden. Die haben Fehler nicht verteufelt oder so, die haben uns einfach gezeigt, dass es Fehler gibt und dass das halt menschlich ist."
Aber als junger Student hat Redelmeier seine Zweifel und seine Unzufriedenheit erst mal nicht so gezeigt. Er wollte ja nicht die Autoritäten infrage stellen oder gegen die Norm verstoßen, das war nicht so sein Ding. "Ich hab mich noch nie so richtig aufgeregt oder war so richtig enttäuscht," hat er gesagt, "ich bin eigentlich total brav. Ich halte mich an die Regeln, ich gehe wählen. Ich gehe immer zu den Personalversammlungen und hab noch nie Stress mit der Polizei gehabt."
1985 ist Redelmeier dann als Assistenzarzt ans Universitätsklinikum Stanford gegangen. Und da hat er dann langsam angefangen, seinen Zweifel als Arzt auszuleben. Eines Nachts, in seinem zweiten Jahr, wurde er auf die Intensivstation geschickt, um das Leben nem jungen Patienten so lange wie möglich zu verlängern, um dessen Organe zu "gewinnen" ("gewinnen" ist so ne komische Umschreibung, die die Amis da immer benutzt haben. In Kanada sagen die halt "Organentnahme"). Der Patient war 21 Jahre alt und hatte nen Motorradunfall, er ist gegen nen Baum gefahren und war hirntot.
Das war das erste Mal, dass Redelmeier mit so nem jungen Leben konfrontiert wurde, das kurz vor dem Ende stand. Er hatte ja schon alte Leute sterben sehen, aber das hier hat ihn echt mitgenommen. "Das Leben, das ist durch so ne Katastrophe ausgelöscht worden," hat er gesagt, "wenn der nen Helm getragen hätte, dann wäre das alles nicht passiert." Die Unfähigkeit des Menschen, Risiken richtig einzuschätzen, das hat Redelmeier total schockiert. Manchmal sind die Fehlentscheidungen ja sogar tödlich. Beim Urteilen kann man sich ja auf was verlassen, zum Beispiel, dass man nen Helm tragen muss, wenn man Motorrad fährt. Später hat Redelmeier das auch zu nem amerikanischen Kommilitonen gesagt. "Was haltet ihr freiheitsliebenden Amerikaner eigentlich davon?" hat er den gefragt, "Entweder frei sterben oder in Ketten leben? Ich will das nicht. Ich will ne 'angemessene Regulierung', das Leben ist mir wichtiger." Sein Kommilitone hat ihm gesagt, "Da sind nicht nur viele Amerikaner anderer Meinung als du, da sind auch viele Ärzte anderer Meinung." Der Kommilitone hat ihm erzählt, dass der berühmte Herzchirurg Norman Shumway sich aktiv dafür eingesetzt hat, dass es kein Gesetz gibt, das Motorradfahrer zum Tragen eines Helms verpflichtet. "Das hat mich total umgehauen," hat Redelmeier gesagt, "wie kann nen intelligenter Mensch bei dem Thema so dumm sein? Das hat noch mal bewiesen, dass Menschen Fehler machen. Und das muss uns bewusst sein."
Mit 27 war Redelmeier dann mit seiner Assistenzarztzeit im Universitätsklinikum Stanford fertig. Danach hat er dann angefangen, seine eigene Theorie zu entwickeln, in die er die Ideen von den beiden israelischen Psychologen mit eingebaut hat, die er ja schon als Teenager kennengelernt hatte. Er war sich nicht so sicher, wie's mit seiner Theorie weitergeht. Er hat sich schon überlegt, nach Kanada zurückzugehen und dann direkt in den Norden von Labrador zu ziehen. Als Medizinstudent hatte er da mal nen Sommerpraktikum gemacht, und da hat er so 500 Leuten in nem Dorf medizinisch versorgt. "Ich hab ja kein fotografisches Gedächtnis, ich bin ja auch nicht so mega intelligent," hat er gesagt, "ich werd wahrscheinlich kein großer Arzt werden. Und wenn ich schon nicht groß werden kann, dann kann ich ja wenigstens in nem medizinisch unterversorgten Gebiet was Gutes tun." Eigentlich hatte Redelmeier ja gedacht, er wird nen ganz normalen Arzt, bis er Amos Tversky getroffen hat.
Sich Denkfehler bewusst machen und die korrigieren, das war für Redelmeier schon lange so ne Art Zwang. Er wusste ja, dass das Gedächtnis nicht so zuverlässig ist, deswegen hat er immer nen kleinen Notizblock mit sich rumgetragen und alles aufgeschrieben, was ihm so durch den Kopf gegangen ist. Wenn er nachts von der Notaufnahme angerufen wurde, dann hat er immer gesagt, dass der Empfang schlecht ist, damit der übermüdete Assistenzarzt am anderen Ende der Leitung noch mal wiederholen musste, was er gesagt hat. "Du kannst ja nicht den Assistenzarzt anmeckern, dass der zu schnell redet. Du musst die Schuld auf dich nehmen – das hilft dem anderen und mir." Wenn ihn irgendwelche Leute zwischen seinen Schichten in seinem Büro besucht haben, dann hat er sich immer nen Timer gestellt, damit er nicht total die Zeit vergisst und seine Patienten vernachlässigt. "Redelmeier vergisst total die Zeit, wenn er gut drauf ist," hat er von sich selber gesagt. Und bevor er zu irgendwelchen gesellschaftlichen Veranstaltungen gegangen ist, dann hat er schon im Voraus alle möglichen Fehler durchgespielt, die er so machen könnte. Wenn er Vorträge gehalten hat – was wegen seines Stotterns immer noch ne Herausforderung war – dann hat er vorher den Raum inspiziert und den ganzen Ablauf durchgespielt.
Und dann kam der Frühling 1988. Das war eigentlich nen ganz normaler Tag für Redelmeier. In zwei Tagen würde er zum ersten Mal mit Amos Tversky zu Mittag essen, in dem Restaurant vom Stanford Faculty Club – da hatten die beiden sich verabredet. Und damit nix dazwischenkommt, hat er seine Visite von 6:30 Uhr morgens auf 16:30 Uhr nachmittags verschoben. Normalerweise hat er nie gefrühstückt, aber an dem Tag schon, damit er beim Mittagessen nicht so abgelenkt ist, weil er so Hunger hat. Und wie immer hat er sich vorher ne Liste mit Themen aufgeschrieben, über die er so reden kann, falls die Gespräche einschlafen. Er wollte ja nicht die ganze Zeit quatschen. Sein Mentor aus Stanford, Hal Sox – der war auch mit dabei – hat ihm gesagt: "Red nicht so viel, sag am besten gar nix. Fall den nicht ins Wort, setz dich einfach hin und hör zu." Sich mit Amos Tversky zu treffen, das ist wie nen Brainstorming mit Albert Einstein, hat Hal Sox gesagt. "Der ist ne absolute Ausnahmeerscheinung, alle paar hundert Jahre mal, da kommt keiner ran."
Zufälligerweise hatte Amos schon mal nen Artikel über Medizin geschrieben, zusammen mit Hal Sox. Der Artikel ist entstanden, weil Amos Sox ne Frage gestellt hat: Wie beeinflussen die Entscheidungen, die die Leute bei Glücksspielen so treffen, das Denken von Ärzten und Patienten? Genauer gesagt, was machen die Leute bei ner sicheren Gewinnchance und ner doppelten, risikobehafteten Gewinnchance (zum Beispiel entweder sicher 100 Dollar gewinnen oder mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit 200 Dollar gewinnen)? Amos hat Hal Sox erklärt, die Leute, die entscheiden sich meistens für den sicheren Gewinn. Lieber den Spatz in der Hand. Aber wenn man vor ner sicheren Verlust steht, also entweder 100 Dollar verlieren oder das Risiko eingehen, alles zu verlieren oder gar nix zu verlieren, dann wählen die Leute eher das Risiko. Sox hat dann, zusammen mit Amos und zwei anderen Medizinern, ne Reihe von Experimenten gemacht, um zu sehen, wie sich die Ärzte und Patienten entscheiden, wenn die vor nem sicheren Verlust stehen und nicht vor nem sicheren Gewinn.
Lungenkrebs war da natürlich nen super Beispiel. In den frühen 80ern hatten Ärzte und Patienten mit Lungenkrebs zwei Möglichkeiten, entweder ne Operation oder ne Chemotherapie. Durch die Operation konnte das Leben des Patienten eher verlängert werden, aber im Gegensatz zur Chemotherapie war die Operation mit nem kleinen Risiko verbunden, dass der Patient direkt stirbt. Wenn der Arzt den Patienten gesagt hat, dass die Überlebensrate nach der Operation 90 % beträgt, dann haben sich 82 % der Patienten für die Operation entschieden. Aber wenn der Arzt denen gesagt hat, dass die Sterblichkeitsrate nach der Operation 10 % beträgt – was ja eigentlich genau das gleiche ist – dann haben sich nur noch 54 % der Patienten für die Operation entschieden. Bei so ner Entscheidung über Leben und Tod, da kommt's nicht so sehr auf die Wahrscheinlichkeit an sich an, sondern darauf, wie die Wahrscheinlichkeit formuliert wird. Das gilt für die Patienten, aber auch für die Ärzte. Sox hat gesagt, die Zusammenarbeit mit Amos hat seine Sicht auf seinen Beruf total verändert. "Kognitive Probleme, das war in der Medizin noch nie so richtig nen Thema," hat er gesagt. Und er hat sich gefragt, wie viele Ärzte, wenn die den Patienten über die Risiken ner Operation aufklären, vielleicht ganz unbewusst eher die 90-prozentige Überlebensrate betonen als die 10-prozentige Sterblichkeitsrate, einfach weil die selber eher für die Operation sind.
Bei diesem ersten Mittagessen hat Redelmeier erst mal nur zugehört. Aber trotzdem hat er was gemerkt. Amos hatte total stechende, graublaue Augen, und er hat leicht gestottert. Er hat super Englisch gesprochen, aber mit nem starken israelischen Akzent. "Der war total aufmerksam," hat Redelmeier gesagt, "total aktiv, total energiegeladen, gar nicht so, wie man sich so nen Professor vorstellt, der da so auf seiner Professur rumhockt. Der hat die ganze Zeit geredet, und jedes Wort, das der gesagt hat, das war irgendwie wichtig. Ich fand's total faszinierend, dass der so wenig Ahnung von Medizin hatte und trotzdem so nen großen Einfluss auf die Entscheidungen in der Medizin hatte." Amos hat den beiden Ärzten dann die ganze Zeit irgendwelche Fragen gestellt, meistens über unlogisches Verhalten in der Medizin. Und Redelmeier hat gemerkt, während Hal Sox versucht hat, die Fragen zu beantworten, dass er seinen Mentor in diesem einen Mittagessen besser kennengelernt hat als in den ganzen drei Jahren zuvor. "Die Fragen von Amos, die waren genau richtig," hat Redelmeier gesagt, "es gab keine peinlichen Pausen."
Als das Mittagessen dann fast vorbei war, hat Amos Redelmeier eingeladen, noch mit in sein Büro zu kommen. Und da hat Amos dann, genau wie bei Hal Sox, so nach und nach alle möglichen Ideen über das menschliche Denken auf Redelmeier losgelassen und ihn gefragt, ob ihm dazu irgendwas aus der Medizin einfällt. Zum Beispiel "Samuelsons Problem". Das ist benannt nach dem Wirtschaftswissenschaftler Paul Samuelson. Amos hat erklärt, wenn man nur einmal die Möglichkeit hat, 150 Dollar zu gewinnen (50-prozentige Wahrscheinlichkeit) oder 100 Dollar zu verlieren (50-prozentige Wahrscheinlichkeit), dann lehnen die Leute das meistens ab. Aber wenn man den gleichen Leuten 100 Mal die Möglichkeit gibt, diese Wette einzugehen, dann entscheiden sich die meisten dafür. Warum rechnen die bei 100 Wetten mit dem zu erwartenden Gewinn und konzentrieren sich eher auf die Wahrscheinlichkeit, die für die spricht, und bei nur einer Wette nicht? Da gibt's keine eindeutige Antwort. Klar, wenn die Wahrscheinlichkeit für nen Gewinn höher ist, dann verliert man am Ende weniger, wenn man das Spiel öfter spielt. Aber je öfter man spielt, desto höher ist der Gesamtverlust. Aber wie auch immer, als Amos dieses Paradoxon dann erklärt hatte, hat er gesagt: "So, Redelmeier, jetzt sag du mir mal, gibt's das auch in der Medizin?"
Und Redelmeier hatte sofort ne Antwort. "Egal wie's in anderen Bereichen ist, in der Medizin gibt's das total oft. Ich war total überrascht, als Amos mich unterbrochen hat und mir aufmerksam zugehört hat." Redelmeier meinte, das "Samuelson-Problem" in der Medizin, das ist die Doppelrolle der Ärzte. Er hat gesagt: "Der Arzt, der ist ja für den einzelnen Patienten verantwortlich, aber auch für die Gesellschaft. Der Arzt, der kann ja immer nur einen Patienten behandeln. Aber als Gestalter des Gesundheitssystems hat er es ja mit allen zu tun."
Aber diese beiden Rollen, die widersprechen sich ja auch. Zum Beispiel, für nen einzelnen Patienten ist es am sichersten, Antibiotika zu nehmen. Aber für die Gesellschaft ist es total schlecht, wenn zu viele Antibiotika genommen werden, weil dann die Bakterien resistent werden und die Krankheiten immer schwerer zu behandeln sind. Der verantwortungsvolle Arzt darf also nicht nur an den einzelnen Patienten denken, sondern muss die Interessen aller Patienten mit der gleichen Krankheit berücksichtigen. Und das Problem ist ja noch viel größer als nur die öffentliche Gesundheitspolitik. Die Ärzte, die haben ja immer wieder mit den gleichen Patienten zu tun. Und die Wahl der Behandlung, das ist wie ne Wette. Die Ärzte, die wetten ja nicht nur einmal, sondern die gehen immer wieder die gleichen Wetten ein. Und verhalten die sich anders, wenn die immer wieder die gleiche Entscheidung treffen müssen, als wenn die sich nur einmal entscheiden müssen?
Amos und Redelmeier haben dann später nen Artikel zusammen geschrieben, "Die Unterschiede zwischen medizinischen Entscheidungen für Einzelpersonen und Gruppen" (veröffentlicht im April 1990 im "New England Journal of Medicine"). Darin haben die gesagt, dass die Ärzte anders vorgehen, wenn die nen einzelnen Patienten behandeln, als wenn die standardisierte Behandlungen für ne Gruppe von Patienten mit der gleichen Krankheit entwickeln. Die Ärzte, die fordern dann von den einzelnen Patienten irgendwelche zusätzlichen Tests an, um unnötige Komplikationen zu vermeiden, aber die fragen die Patienten eher selten, ob die nach ihrem Tod ihre Organe spenden wollen. Bei einzelnen Patienten machen die Ärzte oft Sachen, die sie bei der Entwicklung von allgemeinen Behandlungen für ne Gruppe ablehnen. Die sagen, wenn es gesetzlich vorgeschrieben wäre, dann würden die die Liste mit den Patienten, bei denen Epilepsie, Diabetes oder irgendwas anderes diagnostiziert wurde, was zum plötzlichen Verlust des Bewusstseins führen kann, ans Straßenverkehrsamt melden. Aber das machen die natürlich nie, weil das ja den Einzelnen schadet. "Das zeigt mal wieder, dass es nen Konflikt zwischen den Interessen des Patienten und den Interessen der Gesellschaft gibt," haben Amos und Redelmeier in nem Brief an den Herausgeber vom "New England Journal of Medicine" geschrieben, "und es zeigt auch, dass die Ärzte sich gegenüber Gruppen und Einzelpersonen unterschiedlich verhalten. Und da müssen wir was machen. Es kann doch nicht sein, dass man bei nem einzelnen Patienten diese Behandlung wählt und bei ner Gruppe wieder ne andere."
Es geht halt nicht darum, ob die Behandlung für nen einzelnen Patienten richtig ist, sondern darum, dass die Ärzte bei einzelnen Patienten und bei ner Gruppe von Patienten mit der gleichen Krankheit nicht unterschiedlich vorgehen dürfen. Vielleicht sind ja auch beide Behandlungen falsch. Das ist natürlich total beunruhigend, zumindest für die Ärzte, die Leserbriefe an das "New England Journal of Medicine" geschrieben haben. Redelmeier hat gesagt: "Die meisten Ärzte, die versuchen ja immer, rational, wissenschaftlich und logisch zu sein, aber das ist ja total gelogen, oder zumindest teilweise. Und das, was uns dazu bringt, das zu glauben, das sind ja Hoffnung, Träume und Emotionen."
Dieser erste Artikel von Redelmeier und Amos