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Also, ähm, ja, lass uns mal über... lass uns mal über Realitätsverzerrung reden, ne? Also, warum unser Gehirn die Realität eigentlich so verbiegt. Klingt erstmal komisch, aber es ist eigentlich super nützlich, wenn man so drüber nachdenkt.
Stell dir mal zwei Kreaturen vor, so rein hypothetisch. Die eine nennen wir mal "Wahrheitskreatur", die sieht alles, wirklich alles, ganz genau so wie es ist. Jedes Sauerstoffmolekül, jede UV-Strahlung, jedes Atom in jeder Bakterie, die da unterm Zehennagel rumkriecht. Alles, was es an visuellen Informationen gibt, wird von dieser Kreatur wahrgenommen und verarbeitet. Nichts entgeht ihr.
Und dann haben wir die "Abkürzungskreatur". Die sieht diesen ganzen Kleinkram nicht. Die nimmt nur das wahr und verarbeitet nur das, was für sie wirklich wichtig ist. Alles andere wird ignoriert oder ist für sie schlichtweg unsichtbar. Die kriegt also von der Realität eigentlich nur so'n ganz kleinen Ausschnitt mit.
Tja, und jetzt die Frage: Welche Kreatur wärst du lieber?
Klar, erstmal denkt man: "Die Wahrheit, natürlich!" Aber das wäre ein riesen Fehler. Die Abkürzungskreaturen, die gewinnen nämlich immer. Und zum Glück sind wir auch solche. Wir sind eine Spezies, die sich so entwickelt hat, dass wir die Realität in einer vereinfachten Form wahrnehmen, damit wir überhaupt damit klarkommen und überleben können.
Das ist sogar wissenschaftlich bewiesen, durch das sogenannte "Fitness Beats Truth" Theorem. Das haben Mathematiker und Kognitionswissenschaftler rausgefunden, unter anderem Donald D. Hoffman von der University of California, Irvine. Und das, was die da entdeckt haben, das stellt unsere Vorstellungen von der Welt, wie sie funktioniert, komplett auf den Kopf.
Die meisten von uns denken ja, dass Wahrheit automatisch auch nützlich ist. Aber wenn man mal genauer drüber nachdenkt, stimmt das gar nicht. Wir sehen nicht die Realität selbst, sondern eher so eine Art "Manifest Image", also ein nützliches Trugbild, das uns hilft, uns in der Welt zurechtzufinden.
Hoffman benutzt da immer so'n Computer-Vergleich. Die "echten" Abläufe in einem Computer, die sind für die meisten Leute ja total unbegreiflich. Kaum jemand könnte erklären, was da physikalisch passiert, wenn man auf ein Icon klickt oder 'ne Datei löscht. Aber zum Glück haben irgendwelche Technik-Zauberer eine völlig falsche, aber eben nützliche Illusion davon geschaffen, wie ein Computer funktioniert, und die verstehen wir. Das nennen wir dann "Desktop". Wir können da so'n Cartoon-Cursor rumschieben, aber in Wirklichkeit gibt's ja keinen Desktop und keinen Cursor in diesem Gerät. Das ist alles nur Silizium, Plastik und Kupfer, das irgendwelche binären Berechnungen macht.
Also, wenn wir Computer so sehen würden, wenn wir 'ne E-Mail schreiben, dann würden wir ja nie fertig werden. Wir würden in der Wahrheit versinken, uns in der Realität verlieren. Computer sind für uns erst dann richtig nützlich geworden, als sie in so eine Abkürzungs-Illusion verwandelt wurden, in so einen virtuellen Raum mit Dateien, Cursorn und Icons.
Und, ähm, das wird noch klarer, wenn man sich mal die frühen Versionen von Computern ansieht, so MS-DOS zum Beispiel. Da war man als Nutzer viel näher an der Realität dran, und genau deshalb war das auch so verwirrend. MS-DOS ist ausgestorben, als etwas kam, das weiter von der Realität entfernt war, aber eben nützlicher: ein visueller Desktop.
Und das gleiche passiert ständig in der Natur, das ist quasi die Entstehungsgeschichte unseres Gehirns. Unsere Wahrnehmung der Realität ist eigentlich nur so ein Nebenprodukt der Evolution durch natürliche Selektion. Unsere Vorfahren standen irgendwann an so 'ner Weggabelung. Der eine Weg führte zur Wahrheit, der andere zur Nützlichkeit. Man kann entweder die Wahrheitskreatur sein oder die Abkürzungskreatur, aber nicht beides. Für die Evolution zählt aber vor allem der Fortpflanzungserfolg. Und wie das "Fitness Beats Truth" Theorem beweist, gewinnt die Abkürzungsstrategie immer, wenn Wahrheit und Nützlichkeit im Konflikt stehen.
Der Kognitionspsychologe Steven Pinker hat das mal so formuliert: "Wir sind Organismen, keine Engel, und unser Gehirn ist ein Organ, keine Pipeline zur Wahrheit. Unser Gehirn hat sich durch natürliche Selektion entwickelt, um Probleme zu lösen, die für unsere Vorfahren lebenswichtig waren, nicht um mit der Korrektheit zu kommunizieren." Unsere Wahrnehmung wurde über Millionen von Jahren geformt, feinjustiert, um uns beim Überleben zu helfen, nicht mehr und nicht weniger.
Und es gibt immer mehr neurologische Beweise dafür, dass wir die Welt besser verstehen, indem wir "synaptische Verbindungen" reduzieren. Das Gehirn von Neugeborenen ist vollgepackt mit 100 Milliarden Neuronen. Aber du und ich, wir haben leider nur so um die 86 Milliarden, plus minus ein paar Milliarden. Kleinkinder haben also 'ne höhere synaptische Dichte in ihrer Hirnrinde als wir. Aber die gute Nachricht ist, dass die Evolution mit der synaptischen Reduktion einen ziemlich guten Trick gefunden hat, um uns zu helfen, die Welt zu verstehen.
Alison Barth, eine Neurowissenschaftlerin von der Carnegie Mellon University, erklärt das so: "Netzwerke, die durch Überangebot aufgebaut und dann reduziert werden, sind viel robuster und effizienter." Unser Gehirn nutzt also so 'nen Ausleseprozess, um die Verbindungen zu behalten, die für uns am nützlichsten sind. Es kalibriert unser Gehirn so, dass es zu der Welt passt, in der wir leben.
Und das gleiche gilt für unsere Sinne. Wir denken ja nie darüber nach, dass die Art, wie wir die Welt sehen, nicht die ungeschminkte Wahrheit ist, sondern durch unsere entwickelten Sinne gefiltert wird. Wir können ja ganz viel von der Realität gar nicht wahrnehmen, weil wir nicht die Organe dafür haben, von UV- und Infrarotlicht bis hin zu Atomen und Quarks und Amöben. Das, was du siehst, ist nicht das, was da ist. Aber selbst von den Informationen, die wir wahrnehmen und verarbeiten könnten, ignorieren wir die meisten automatisch. Unser Gehirn filtert die einfach raus.
Die Welt um uns herum ist 'ne riesige Informationsflut. Wir könnten uns unmöglich auf alles konzentrieren. Wenn wir das tun würden, wären wir total überfordert und würden das Wichtige gar nicht mehr sehen. Um damit klarzukommen, konzentriert sich unser Gehirn wie ein Laser auf das Erkennen von hilfreichen Mustern und potenziell bedrohlichen Abweichungen, während es das, was weniger nützlich ist, einfach ausblendet. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat mal gesagt: "Wir sehen Emotionen... Wir sehen nicht Gesichtszüge und schließen daraus, dass er Freude, Trauer oder Langeweile empfindet. Wir beschreiben ein Gesicht sofort als traurig, strahlend, gelangweilt, selbst wenn wir keine andere Beschreibung der Gesichtszüge geben können." Das sind die Vorteile der Abkürzungskreatur.
Um zu überleben, werfen wir also den unnötigen Ballast ab. Glaubst du nicht? Dann versuch mal, so genau wie möglich aus dem Gedächtnis etwas zu zeichnen, was du schon tausende Male gesehen hast, zum Beispiel 'nen Fünf-Euro-Schein. Ich verspreche dir, das wird nicht gut gehen. Unser Gehirn verarbeitet die Realität automatisch und behält nur wenig davon für die spätere Erinnerung. Wir nehmen nur so ein kleines, nützliches Stückchen wahr und speichern das.
Unsere grundlegende Art, die Realität zu erleben, beruht also teilweise auf zufälligen evolutionären Ereignissen. Stell dir mal vor: Unsere Sicht, das Fenster, durch das wir die Welt sehen, könnte ganz anders sein, wenn es nicht ein paar zufällige Veränderungen gegeben hätte. Hätten sich Kriege anders entwickelt, wenn wir die Sehschärfe von Adlern hätten und einen feindlichen Soldaten aus drei Kilometern Entfernung erkennen könnten? Wie würde die Geschichte aussehen, wenn wir nur in Schwarzweiß sehen könnten?
Das sind keine abwegigen Gedankenspiele. Unsere Wahrnehmung der Realität ist nur eine von vielen möglichen Arten, die Welt zu sehen. Wir haben drei Arten von Photorezeptoren in unseren Augen, rot, grün und blau, und deshalb nennen wir uns Trichromaten. Die meisten Säugetiere, auch unsere Hunde, haben nur blaue und grüne Rezeptoren, sind also Dichromaten und sehen Farben ähnlich wie Menschen mit Rot-Grün-Blindheit. Delfine und Wale sind Monochromaten und können nur in Schwarzweiß sehen. Die meisten Vögel, Fische und einige Insekten und Reptilien, darunter auch die Dinosaurier, sind Tetrachromaten, weil sie auch ultraviolettes Licht sehen können. Und Neuweltaffen, wie zum Beispiel Klammeraffen, sind noch seltsamer. Im Allgemeinen sind die Weibchen trichromatisch, während die Männchen dichromatisch sind. Wäre schon 'ne komische Welt, wenn Männer und Frauen unterschiedliche Farben sehen würden.
Aufgrund der Beschaffenheit der Gene, die unsere Augen produzieren, ist es theoretisch möglich, dass Menschen mit vier statt drei funktionierenden Farbrezeptoren geboren werden, also menschliche Tetrachromaten. Gabriele Jordan von der Newcastle University hat lange danach gesucht. Und tatsächlich hat sie irgendwann einen echten Fall gefunden. Die Frau, die verständlicherweise keine Lust hat, dass Reporter und Podcaster ständig in ihr Leben eindringen, ist Ärztin in Nordengland und in der Wissenschaft als cDa29 bekannt. Wir sehen das Leben in der reichen Vielfalt von etwa einer Million verschiedener Farben. Für cDa29 sind es 100 Millionen, eine Pracht, von der wir anderen uns nur eine Vorstellung machen können.
Wir denken ja gerne, dass alles nicht nur einen Grund hat, sondern auch gute Gründe. Aber die Wahrheit ist, dass wir alle die Welt mit Augen wie cDa29, oder wie Wale in Schwarzweiß, oder vielleicht sogar wie 'ne Gottesanbeterin-Krebs sehen könnten, die sage und schreibe zwölf Farbrezeptoren hat. Wenn das so wäre, hätte sich die gesamte Menschheitsgeschichte verändert.
Klar, kontrafaktische Geschichte, da denkt man immer nur so an kleine Veränderungen, an 'ne Welt, die unserer gleicht, in der aber eine wichtige Entscheidung anders ausgegangen ist. Was wäre, wenn Hitler auf die Kunsthochschule gegangen wäre oder Abraham Lincoln überlebt hätte? Aber stell dir mal vor, was für 'ne kontrafaktische Geschichte entstehen würde, wenn alle Menschen über Hunderttausende von Jahren die Realität anders wahrnehmen würden. Unsere Sinne sind 'ne entscheidende, aber oft übersehene Variable unserer Spezies. Mit ein paar kleinen Veränderungen hätte alles ganz anders sein können.
Unsere Sinne sind nicht zufällig entstanden, sondern als zufälliges Ergebnis einer komplexen Evolutionsgeschichte. Warum haben Menschen drei Farbrezeptoren, rot, grün, blau, statt nur zwei? Vor Millionen von Jahren haben sich Primaten in zwei Gruppen aufgeteilt. Und Forscher haben da 'nen interessanten Zusammenhang entdeckt: Primaten, die in Gegenden lebten, in denen viele rötliche Feigen zwischen hellgrünen Palmen wuchsen, entwickelten die Fähigkeit, Rot vor grünem Hintergrund zu erkennen, was ihnen beim Überleben half. Primaten, die nicht in solchen Gegenden lebten, blieben rot-grün-blind. Und wir sind die Nachkommen der Feigen-Primaten.
Wissenschaftler haben also vielleicht 'nen plausiblen "Grund" gefunden, dass Menschen drei Photorezeptoren in ihren Augen haben, weil unsere Vorfahren gelernt haben, Feigen besser zu sehen als andere Arten. Aber wie willkürlich ist das denn? Die Antwort auf eines der großen Geheimnisse des Lebens ist... Feigen?
Ein anderer Trick der Abkürzungskreatur ist, dass unser Gehirn Muster erkennt. Schon immer haben die Menschen die Punkte am Himmel miteinander verbunden, um Sternbilder zu formen, mit Geschichten von himmlischem Mut. Und viele Neurowissenschaftler sehen in unserer "überlegenen Musterverarbeitung" das Merkmal, das uns zu Menschen macht, das uns Intelligenz, Fantasie und Erfindungsreichtum schenkt. Wir haben die neurologische Fähigkeit, zu kategorisieren, Ursache und Wirkung herzuleiten und Muster in einer Welt zu erkennen, die extrem komplex ist.
Aber unser Gehirn ist auch allergisch gegen Zufall und Chaos. Es entdeckt fälschlicherweise Muster und schlägt falsche Gründe vor, warum Dinge passieren, anstatt den Zufall als die richtige Erklärung zu akzeptieren. Die Abkürzungskreatur erfindet ordentliche Erklärungen angesichts scheinbarer Zufälligkeit. Das führt dazu, dass wir Zufälle fälschlicherweise als unwichtig abtun. Unsere kognitiven Prozesse priorisieren das Überleben gegenüber der Wahrheit, deshalb hat sich unser Gehirn so entwickelt, dass es unser Verständnis von Ursache und Wirkung in eine irreführende, aber nützliche Form vereinfacht. Wir suchen nach einer Ursache für eine Wirkung. Wir stellen uns 'ne lineare Beziehung zwischen Ursachen und Wirkungen vor, also kleine Ursachen haben kleine Auswirkungen, große Ursachen haben große Auswirkungen. Und wir blenden die Rolle des Zufalls systematisch aus und erfinden Gründe, selbst wenn es keine gibt, weil wir uns vor dem Ungewissen und Unbekannten fürchten.
Wir haben uns so entwickelt, dass wir Muster überinterpretieren. Es ist sicherer, fälschlicherweise anzunehmen, dass ein raschelndes Geräusch von 'nem Raubtier verursacht wird, als 'nen Löwen zu ignorieren, weil man das Rascheln als Zufall abtut. Um zu überleben, ist unser Gehirn supersensibel für Bewegungen und die Absichten anderer geworden. Der Evolutionsphilosoph Daniel Dennett argumentiert, dass wir besonders auf die Überzeugungen, Wünsche, Informationen und Ziele anderer eingestellt sind. Oder, wie er es formuliert: "Wer weiß was?" und "Wer will was?" sind Fragen, die uns die Evolution gelehrt hat zu stellen. Will mich diese seltsame Kreatur mit den Zähnen fressen oder ist sie nur neugierig? Das ist 'ne ziemlich wichtige Frage. Diejenigen, die das in der fernen Vergangenheit falsch eingeschätzt haben, haben ihre Gene weniger wahrscheinlich weitergegeben und wurden so aus der Zukunft der Menschheit aussortiert. In einer Welt, in der falsche Positive ärgerlich sind, falsche Negative aber tödlich, sind unsere Gehirne hyperempfindlich für Mustererkennung, die uns irgendwann mal das Leben retten könnte.
Als "Muster-Menschen" brauchen wir Gründe, warum Dinge passieren, selbst wenn es keine guten Gründe gibt. Marianne Simmel und Fritz Heider vom Smith College in Massachusetts haben 1944 herausgefunden, wie tief diese Tendenz geht. Sie haben 'ne einfache Animation von Formen gezeigt, die sich wahllos über 'nen Bildschirm bewegten. Und 35 von 36 Teilnehmern beschrieben das größere Dreieck als 'nen Tyrannen, der die "tapferen" und "lebhaften" kleineren Formen jagte. Die Köpfe der Teilnehmer konnten einfach nicht widerstehen, den Formen Kausalität, Geschichten und sogar Persönlichkeit zu verleihen.
Aber die Kehrseite dieser sensiblen Mustererkennung ist, dass wir zufällige Ereignisse entweder ignorieren oder so tun, als wären sie Teil von irgendeiner versteckten, geordneten Struktur, dass wir ordentliche Linien durch ungeordnete Streudiagramme ziehen. Unsere Spezies ist ein treuer Anhänger des Kults der Kausalität.
Nichts ist für uns beunruhigender als das Gefühl, 'ne Marionette des Zufalls zu sein, nichts ist erschütternder als die Vorstellung, dass Leben und Tod scheinbar willkürlich kommen. Aber das tun sie oft. Der Versuch, das Sinnlose zu verstehen, ist ein langjähriges Bestreben von uns und unseren Vorfahren. Neanderthaler-Gräber aus der Zeit vor 50.000 Jahren zeigen sogar mögliche Anzeichen von abergläubischen Glauben, da einige Gräber mit um die Knochen gestreuten Pollenkörnern gefunden wurden, oder in einem Fall mit verschiedenen Tierhörnern und dem Schädel eines Nashorns.
Nachdem die Aufklärung das Zeitalter der Vernunft einleitete, wurden nichtreligiöse abergläubische Überzeugungen in intellektuellen Diskussionen zunehmend lächerlich gemacht. Aber sie sind immer noch weit verbreitet, sogar an unerwarteten Orten. In einer vielleicht apokryphen Geschichte bemerkte ein Besucher im Haus des Physik-Nobelpreisträgers Niels Bohr ein Hufeisen über der Tür hängen. Erstaunt, dass einer der Gründerväter der Atomtheorie und Quantenphysik seinen Glauben an Aberglauben setzen würde, fragte der Besucher, ob Bohr tatsächlich glaubte, dass das Hufeisen ihm Glück bringen würde. "Natürlich nicht", soll Bohr geantwortet haben, "aber man sagt mir, dass sie auch denen Glück bringen, die nicht daran glauben."
Wir tun alles, um Erklärungen zu erfinden, wenn keine verfügbar sind. Als der Erste Weltkrieg zu Ende ging, waren die blutgetränkten Schützengräben nicht nur voller Leichen, sondern auch voller Talismane. Heidekraut, herzförmige Amulette und Hasenpfoten wurden neben provisorischen Gräbern beerdigt. Truppen aus den Bergen der österreichisch-ungarischen Monarchie hatten Fledermausflügel in ihre Unterwäsche eingenäht, damit sie am Leben blieben. Kaum jemand traute sich, die Stiefel der Toten zu tragen, egal wie fein das Leder war.
Zwei Jahrzehnte später kehrte der Weltkrieg zurück, und der Aberglaube nahm wieder zu. Als 1944 die V1-Raketen auf London fielen, begannen die Bewohner fieberhaft zu versuchen, vorherzusagen, wo die nächste Serie einschlagen würde, komplett mit Karten und konkurrierenden Aberglauben. Aber als die Einschlagstellen nach dem Krieg analysiert wurden, folgte ihre Zerstörung einer Poisson-Verteilung, also einer fast perfekt zufälligen Verteilung.
Aberglaube ist die Tochter des Unerklärlichen und scheinbar Zufälligen. Wir erfinden ihn, um mit kausaler Unsicherheit umzugehen, einem desorientierenden Gefühl, das wir empfinden, wenn wir nicht wissen, warum etwas passiert und wir uns wie das Spielzeug des Chaos fühlen. Aberglaube ist nicht, wie viele fälschlicherweise glauben, die Domäne von Dummköpfen. Stattdessen ist er ein verständlicher und fast universeller Weg, mit dem Menschen Kontrolle ausüben, wenn sie das Gefühl haben, dass gewöhnliche, rationale Methoden der Manipulation der Welt fruchtlos geworden sind. In den Worten von Theodore Zeldin funktioniert Aberglaube genauso wie der "moderne Autofahrer, der nicht weiß, wie sein Auto funktioniert, aber ihm trotzdem vertraut und nur daran interessiert ist zu wissen, welchen Knopf er drücken muss." Das Glücks-Amulett mag nicht funktionieren, aber wenn Bomben vom Himmel regnen, hast du bessere Ideen?
Zufall ist für uns auch deshalb unbefriedigend, weil wir, um 'ne Formulierung von Jonathan Gottschall zu verwenden, ein "Geschichtenerzähler-Tier" sind. Unser Gehirn ist für Geschichten konzipiert. Wir erzählen uns Geschichten, und alle guten Geschichten haben eine klare Ursache und Wirkung im Zentrum. Wir sitzen ja nicht auf der Stuhlkante und warten darauf, dass ein Zufallszahlengenerator neue Ziffern ausspuckt.
E. M. Forster hat mal geschrieben: "Der König starb und dann starb die Königin' ist 'ne Geschichte. 'Der König starb und dann starb die Königin aus Trauer' ist 'ne Handlung." Die Krimiautorin P. D. James stimmte zu, schlug aber vor, die Handlung mit dem Zusatz "Alle dachten, die Königin sei aus Trauer gestorben, bis sie die Einstichstelle in ihrem Hals entdeckten" zu verbessern. Die drei Sätze verlaufen von am wenigsten bis am einprägsamsten. Der erste hat keine Kausalität und ist daher nur 'ne Liste von unabhängigen Fakten, die Art von Informationen, die wir am schwersten behalten können. Der zweite beruft sich auf Kausalität, liefert aber sofort den Grund für den Tod der Königin und dämpft damit unser Interesse. Der dritte Satz lässt uns jedoch fragen, wer die Einstichstelle in den Hals der Königin gemacht hat, und dieser Kausalitäts-Cliffhanger ist leicht zu merken. Das ist auch der Grund, warum Krimiautoren Bestseller produzieren und warum True Crime die Podcast- und Dokumentarfilm-Charts dominiert. Wir wollen wissen, wer, aber vor allem müssen wir wissen, warum.
In Cat's Cradle parodiert Kurt Vonnegut diesen menschlichen Impuls, als er über 'ne fiktive Religion namens Bokononismus schreibt. Die Religion erzählt von einer Begegnung zwischen Mensch und Gott. "Der Mensch blinzelte. 'Was ist der Sinn von all dem?', fragte er höflich. 'Muss alles einen Sinn haben?', fragte Gott. 'Sicher', sagte der Mensch. 'Dann überlasse ich es dir, dir einen Sinn für all das auszudenken', sagte Gott. Und er ging weg."
Wenn wir nicht wissen, warum, tun wir so, als ob wir es wüssten. Nirgendwo ist diese Tendenz, Ursachen zu erfinden, deutlicher als bei Split-Brain-Experimenten. Manchmal unterzieht sich jemand mit schwerer Epilepsie einer Operation, bei der der Corpus callosum durchtrennt wird, 'ne dicke Nervenbahn, die die rechte Gehirnhälfte mit der linken verbindet. Die Patienten sind immer noch in der Lage zu funktionieren, aber Informationen können nicht mehr zwischen den beiden getrennten Gehirnhälften ausgetauscht werden. Die linke Gehirnhälfte ist auf Sprache spezialisiert, da formulieren wir narrative Erklärungen zum Verständnis der Welt. Bizarrerweise haben Experimente gezeigt, dass, wenn Informationen an die rechte Hälfte des Gehirns des Patienten gegeben werden, nicht aber an die linke, die linke Gehirnhälfte mit der Verwirrung umgeht, indem sie automatisch 'ne plausible Erklärung erfindet. Daraus entstand die neurowissenschaftliche Theorie, dass die linke Hemisphäre als der Interpret in unserem Schädel angesehen werden kann. Wenn es keine Gründe gibt, erfindet unser Gehirn einen.
Wir brauchen aber nicht nur Gründe, sondern auch einfache. In der ordentlichen Welt, die wir uns wünschen, erzeugt eine Ursache eine einfache Wirkung im Verhältnis zur Größe der Ursache. Aber so funktioniert die moderne Welt nicht. Wenn wir den kognitiven Fehler machen, ungeordneten Prozessen ordentliche Gründe und 'nen Zweck aufzuzwingen, dann nennt man das teleologische Verzerrung. Diese Verzerrung scheint in allen Kulturen angeboren zu sein. Kinder in China und im Westen glauben intuitiv, dass Berge für Menschen gemacht wurden, um sie zu besteigen. Bildung schwächt solche kognitiven Verzerrungen ab, aber teleologisches Denken bleibt bestehen. Es ist fast unmöglich für Denker, die populäre Vorstellungen von Veränderungen prägen, zu argumentieren, dass ein bestimmtes Ereignis durch neutrale Ereignisse, durch Zufall oder durch das Chaos oder Zufällige verursacht wurde. Wenn Soldaten in Schützengräben Zufall und Ungewissheit mit einfachen, klaren Ursache-Wirkungs-Beziehungen versehen, die sich oft als falsch herausstellen, nennen wir das Aberglauben. Aber wenn wir etwas Ähnliches tun, um Veränderungen in unserer komplexen Welt zu erklären, nennen wir es etwas anderes: Punditry und schlechte Sozialwissenschaften.
Ich spreche da aus eigener Erfahrung. Ich werde manchmal eingeladen, in Nachrichtensendungen im Fernsehen aufzutreten. Ich gebe mein Bestes, um die Fragen zu beantworten. Aber Punditry hat viele ungeschriebene Regeln. Neue "Takes" werden belohnt. Selbstbewusst und mit Überzeugung 'ne wackelige Meinung zu äußern ist besser als Zaghaftigkeit und Unsicherheit. "Weil" ist besser als drei unaussprechliche Worte: "Ich weiß es nicht." Und 'ne eiserne Regel ist, dass man niemals andeuten darf, dass ein wichtiges Ereignis passiert ist, weil... naja, manchmal passieren wichtige Ereignisse aufgrund kleiner, zufälliger Störungen im extrem komplexen, miteinander verbundenen System von 8 Milliarden interagierenden Menschen, das wir moderne Gesellschaft nennen. Oder, genauer gesagt, man darf das nicht sagen, wenn man weiterhin das Privileg haben will, als ein Achtel von 'ner atemlosen Octobox in 40-Sekunden-Soundbites im Kabelfernsehen über die Nachrichten zu diskutieren. Dieses Phänomen ist besonders in der Marktanalyse ausgeprägt, wo irgendwelche stochastischen, also scheinbar zufälligen, Schwankungen der Aktienkurse fast immer als das natürliche Ergebnis irgendeiner eindeutigen Ursache und Wirkung erklärt werden. Wann immer du hörst "Die Märkte reagieren auf" oder "Die Aktien sind heute gefallen, weil", sollten deine Antennen für teleologische Verzerrungen auf Hochtouren laufen.
Teleologische Verzerrung hängt mit 'nem Phänomen zusammen, das man Apophenie nennt, die Schlussfolgerung einer Beziehung zwischen zwei unzusammenhängenden Objekten oder 'ne falsche Schlussfolgerung von Kausalität. Das manifestiert sich im Sport mit dem "Hot Hand Fallacy", bei der ein Basketballspieler, der mehrere Würfe hintereinander erzielt, als unfehlbar gilt, obwohl die vorherigen Würfe des Spielers keinen Einfluss auf die zukünftigen haben, außer vielleicht als Selbstvertrauensschub. Der "Gambler's Fallacy" ist ähnlich, bei dem 'ne Reihe von gewonnenen Wetten jemanden übermütig macht und fälschlicherweise 'n Muster aus 'nem zufälligen Ergebnis ableitet.
Verschwörungstheorien leben von solchen kognitiven Verzerrungen, einschließlich der Magnitude Bias. Nach der vereinfachten linearen Weltanschauung müssen große Ereignisse große Ursachen haben, nicht kleine, zufällige oder zufällige. Christopher French, der die Anomalistic Psychology Unit am Goldsmiths, University of London, leitete, sagte mir, dass der Tod von Prinzessin Diana so viele Verschwörungstheorien ausgelöst hat, weil viele Leute die Vorstellung nicht akzeptieren wollten, dass ein so wichtiges Ereignis durch bloßes menschliches Versagen und die banale Tödlichkeit eines zu schnellen Autos verursacht worden sein könnte. Irgendetwas anderes musste vor sich gehen, denken die Verschwörungstheoretiker, ein geheimes Muster, das darauf wartet, entdeckt zu werden. Sie sind sogar bereit, sich gegenseitig widersprechende Erklärungen zu akzeptieren, anstatt 'ne größere, versteckte Erklärung auszuschließen. Einige Verschwörungstheoretiker glauben, dass Diana noch lebt und dass sie vom britischen Geheimdienst getötet wurde. Die logische Unmöglichkeit, dass beides zutrifft, ist für die Verschwörungstheoretiker weniger ein Problem als die unbefriedigende Erklärung, dass es ein Unfall war.
Voltaire wurde inspiriert, Candide zu schreiben, nachdem er versucht hatte, die scheinbar zufällige Tragödie des Erdbebens von Lissabon 1755 zu verstehen, das ohne ersichtlichen Grund die Stadt dem Erdboden gleichmachte, 'nen Tsunami auslöste und 12.000 Menschen tötete. In dem Buch ist der übermäßig optimistische Charakter Dr. Pangloss die teleologische Verzerrung in menschlicher Form. Er sieht überall Sinn und Optimierung. Steine wurden auf die Erde gelegt, damit Feudalherren später Burgen bauen konnten. Beine wurden so entworfen, dass Breeches aus dem 18. Jahrhundert perfekt passen. Unsere Nasen wurden in genau der richtigen Form in unsere Gesichter geätzt, in Erwartung der Erfindung von Brillen. Voltaires Figur inspirierte 'n neues Wort, Panglossian, das sich auf 'nen unerbittlichen Optimismus bezieht, dass die Welt, in der wir leben, die bestmögliche Welt ist, die es geben könnte, die unaufhaltsam auf den Fortschritt zusteuert, in der alles genau für seine Funktion entworfen ist. Diese Sichtweise ist 'n natürlicher Verbündeter des Mantras, dass alles aus 'nem bestimmten Grund geschieht, alles mit 'nem verborgenen Zweck, der darauf wartet, erkannt zu werden. "Wenn Sie nicht in die Inquisition gesteckt worden wären", verkündet Dr. Pangloss, oder "wenn Sie nicht alle Ihre Schafe aus dem schönen Land El Dorado verloren hätten", dann "wären Sie nicht hier und würden kandierte Zitronen und Pistazien essen."
Vielleicht, aber Dr. Pangloss stellt 'ne falsche Diagnose, wie viele von uns, wenn er andeutet, dass 'ne lineare Entwicklung von Ereignissen das Endziel des Fortschritts hat. Hegel und Marx lagen falsch: Die Natur und komplexe Systeme wie die moderne menschliche Gesellschaft bewegen sich nicht unaufhaltsam auf irgendeinen idealisierten Endpunkt zu. Es klingt absurd, wenn Dr. Pangloss diese Art von Denken in seiner extremsten und bizarrsten Form verkündet, aber ähnlich panglossianisches Denken dominiert immer noch große Teile der modernen Gesellschaft. Wir sehen manchmal Muster und sinnvolle Beziehungen, wo keine existieren, weil das besser ist, als nichts zu sehen. In den Worten der verstorbenen Philosophin Susanne Langer: "Der Mensch kann sich irgendwie an alles anpassen, was seine Vorstellungskraft bewältigen kann, aber er kann nicht mit Chaos umgehen."
Hin und wieder versagen die Abkürzungen also. Die meiste Zeit, in der wir den Planeten bevölkert haben, haben unsere entwickelten Köpfe uns großartig am Leben erhalten, und die Überlebenden haben unsere Spezies geformt. Aber wenn sich die Welt verändert, gerät die Abkürzungskreatur möglicherweise in Gefahr. Wenn alte Muster neuen weichen, kann das, was einst 'ne nützliche Heuristik war, plötzlich schädlich werden. Wir können diese Lektion von zwei Arten lernen, die uns zwar nicht besonders ähnlich sind, aber dennoch von Gehirnen durch die Welt gesteuert werden, die sich wie unsere entwickelt haben, um sie sinnvoll zu täuschen. Als sich die Welt veränderte, erwies sich ihre innere Täuschung als tödlich.
Wir wenden uns kurz den Meeresschildkröten und Prachtkäfern zu. Beide sind wie wir Abkürzungskreaturen. Meeresschildkröten nutzen Licht als Abkürzung: Die Schlüpflinge bewegen sich auf den hellsten Punkt am Horizont zu, der normalerweise das Mondlicht ist, das sich auf dem Wasser des Ozeans spiegelt. Diese Abkürzung war zuverlässig, bis Menschen Strandhotels mit hellen Strahlern bauten. Die Schildkröten begannen zu sterben und kämpften unaufhaltsam darum, Wasser zu finden, als sie sich auf das Licht zubewegten, weg vom Meer. Viele Küstengebiete haben jetzt Lichtverordnungen erlassen, um dieses traurige Schicksal zu verhindern.
Aber der Prachtkäfer bietet das einprägsamste Beispiel für 'ne Abkürzung, die schiefgegangen ist. Das männliche Käferchen kann die "Wahrheit" des viel größeren Körpers des weiblichen Käfers nicht erkennen, sondern sucht nach ihrer markanten Färbung, Größe und dem gemusterten Gehäuse. Diese Abkürzung funktionierte gut, bis 'ne australische Brauerei durch Zufall in ihrem Flaschendesign 'ne virtuelle Nachbildung der Merkmale eines weiblichen Prachtkäfers schuf. Die Ähnlichkeit war unheimlich. Der Abkürzung folgend begannen die männlichen Käfer, sich mit weggeworfenen Flaschen zu paaren und versäumten es dadurch, Nachkommen zu zeugen. Wie Wissenschaftler das Phänomen eher vorsichtig beschrieben, als sie 'ne weggeworfene Bierflasche am Straßenrand fanden, hatten die männlichen Käfer die Bierflasche in Scharen bestiegen, "die Genitalien nach außen gekehrt, um den Aedeagus einzuführen".
Diese Fehlpaarungen durch defekte Abkürzungen sind als evolutionäre Fallen bekannt. Sie entstehen, wenn die alten Überlebensmethoden mit 'ner neueren Realität unvereinbar werden. Leider stehen Menschen, die versuchen, sich in der unvorstellbaren Komplexität der modernen Gesellschaft zurechtzufinden, jetzt vor 'ner evolutionären Falle, weil sich unser Gehirn nicht so entwickelt hat, dass es mit 'ner hypervernetzten Welt zurechtkommt, die unaufhaltsam auf Messers Schneide zusteuert, in der ein winziger Zufall alles im Handumdrehen verändern kann. Die Abkürzungskreatur kommt mit 'ner neuen, komplexeren Welt nicht so gut zurecht. Ja, genau.