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Calculating...

Okay, also, hallo erstmal, ähm, ja, wo fangen wir denn da am besten an? Also, stell dir mal vor, du könntest dein Leben ganz von vorne beginnen, ne? Würde dann wirklich alles wieder genauso laufen? Krass, oder?

Am 30. Oktober, ich glaub 1926 war das, sind Mr. und Mrs. H. L. Stimson in Kyoto, Japan, aus so 'nem Dampfzug gestiegen und haben im Miyako Hotel eingecheckt, Zimmer 56. Ganz normal, erstmal. Dann sind die da halt rumgegangen, so durch die Stadt, die ehemalige Hauptstadt, haben sich die ganzen bunten Blätter angeschaut, so im Herbst, die Ahornbäume, rot, und die Ginkgos, gelb, total schön, muss das gewesen sein. Haben sich Tempel angeguckt, Gärten, alles, was so dazugehört, wenn man Tourist ist, ne? Sechs Tage später haben die dann ausgecheckt und sind wieder gefahren.

Aber, und jetzt kommt's, das war halt kein normaler Touristen-Trip, sondern dieser Name, Stimson, im Hotelbuch, das wurde später irgendwie 'n historisches Dokument, weil, dieser Besuch war der Beginn von 'ner ganzen Kette von Ereignissen, bei denen ein Mann im Prinzip Gott gespielt hat. Er hat hunderttausend Leben gerettet, aber gleichzeitig woanders auch ungefähr genauso viele dem Tod geweiht. Krass, oder? Vielleicht der wichtigste Sightseeing-Trip in der ganzen Menschheitsgeschichte, irgendwie.

Neunzehn Jahre später, ganz woanders, in New Mexico, da haben sich so 'n paar Physiker und Generäle getroffen, an 'nem geheimen Ort, der hieß "Site Y". Das war so im Mai, also kurz nach dem Ende vom Krieg gegen Nazi-Deutschland. Jetzt ging's halt gegen Japan, und da war der Krieg noch voll im Gange. Aber diese Wissenschaftler und Soldaten, die haben da irgendwie 'ne Lösung gesehen: 'ne neue Waffe, die alles verändern könnte. Die nannten das Ding "Gadget".

Die hatten das Ding noch nicht getestet, ob das überhaupt funktioniert, aber alle da bei Site Y, die waren total zuversichtlich. Dann haben die dreizehn Männer ausgewählt, so 'ne Art Elite-Gruppe, das "Target Committee", die sollten entscheiden, wie man dieses "Gadget" am besten einsetzt. Welche Stadt sollte zerstört werden? Tokio, das war denen zu verbrannt, da war ja eh schon alles kaputtgebombt. Dann haben die überlegt, und dann haben die sich geeinigt: Die erste Bombe, die sollte auf Kyoto fallen.

Kyoto war 'ne Industriestadt, da wurden Flugzeugmotoren gebaut, und wenn man die Stadt dem Erdboden gleichmacht, dann, so dachten die, würde das die japanische Moral total brechen. Und, ganz wichtig, Kyoto war 'ne Universitätsstadt, mit 'ner gebildeten Bevölkerung. Die Überlebenden, so die Idee, die würden dann kapieren, dass diese neue Waffe alles verändert und dass der Krieg eh schon verloren ist. Also, Kyoto muss weg, das war der Plan.

Drei Städte standen noch auf der Liste: Hiroshima, Yokohama und Kokura. Diese Liste ging dann zu Präsident Truman. Und dann hieß es warten, bis die Bombe fertig war.

Am 16. Juli war's dann soweit, ne? Die erste Atomexplosion in New Mexico, die war erfolgreich. Jetzt wurden die Pläne konkreter. Militärs haben sich Karten von Kyoto angeschaut und haben sich entschieden, wo die Bombe fallen soll: am Güterbahnhof, mitten in der Stadt. Und das war nur so 'n halben Kilometer von dem Hotel entfernt, wo die Stimsons zwanzig Jahre vorher gewohnt hatten.

Am 6. August fiel dann die Bombe, "Little Boy", aber nicht auf Kyoto, sondern auf Hiroshima, abgeworfen von der Enola Gay. Bis zu 140.000 Menschen sind gestorben, die meisten Zivilisten. Drei Tage später fiel dann "Fat Man" auf Nagasaki, und da sind nochmal so 80.000 gestorben.

Aber warum wurde Kyoto verschont? Und warum wurde Nagasaki, das war ja nicht mal auf der Top-Liste, warum wurde das zerstört? Und jetzt kommt's, ne? Das Leben von zweihunderttausend Menschen hing an 'nem Touristenpaar und an 'ner Wolke. Verrückt, oder?

Dieser Mr. H. L. Stimson, der war 1945 nämlich Kriegsminister in den USA. Der hat sich eigentlich um die Strategie gekümmert, nicht um die Details. Aber als Kyoto auf der Ziel Liste stand, da hat er sich eingemischt. Er hat gesagt: "Ich will nicht, dass Kyoto bombardiert wird." Immer wieder. Aber die Generäle, die haben nicht verstanden, warum. Die wussten ja nichts von dem Hotel, den Ahornbäumen und den Ginkgos.

Stimson hat sich dann an Truman gewandt, den Präsidenten. Und der hat dann irgendwann nachgegeben. Kyoto wurde von der Liste gestrichen. Die neue Liste war Hiroshima, Kokura, Niigata und dann eben noch Nagasaki. Stimson hatte seine "Lieblingsstadt" gerettet.

Die zweite Bombe sollte auf Kokura fallen. Aber da war so 'ne Wolkendecke, man konnte die Stadt nicht sehen. Das war total unerwartet, die Meteorologen hatten eigentlich klares Wetter vorhergesagt. Der Pilot ist dann so im Kreis geflogen, hat gewartet, aber die Wolken sind nicht weggegangen. Dann hat er sich entschieden, lieber 'n anderes Ziel anzugreifen, bevor die Bombe noch falsch fällt. Und dann sind die nach Nagasaki geflogen. Da war auch alles voller Wolken. Dann haben die noch 'ne Runde gedreht, und im letzten Moment sind die Wolken dann doch noch weggegangen. Um 11:02 Uhr fiel die Bombe.

Die Leute in Nagasaki, die hatten doppelt Pech. Erstens war ihre Stadt nur so 'ne Notlösung auf der Liste, und zweitens wurde sie nur zerstört, weil das Wetter über 'ner anderen Stadt schlecht war. Wenn das Flugzeug ein paar Minuten früher oder später gestartet wäre, dann wäre Kokura zerstört worden. Und bis heute sagen die Japaner "Kokuras Glück", wenn jemand irgendwie so knapp 'ner Katastrophe entkommt.

Also, Wolken haben eine Stadt gerettet und der Urlaub von 'nem Paar hat 'ne andere gerettet. Das ist schon verrückt, ne? Da fragt man sich, ob man die Welt überhaupt verstehen kann, ob alles irgendwie so 'n bisschen Zufall ist.

Als Kind fragen wir immer "Warum?". Und wir lernen dann, dass Ursache und Wirkung irgendwie zusammenhängen. Wenn du 'ne heiße Herdplatte anfasst, dann tut's weh. Rauchen macht Krebs. Wolken bringen Regen.

Aber in Japan, da war 'ne Wolke die Ursache für was ganz anderes, nämlich für den Tod von vielen Menschen in einer Stadt, statt in einer anderen. Und das kann man nur verstehen, wenn man ganz viele verschiedene Faktoren zusammenbringt. Zum Beispiel, dass Kaiser Hirohito an die Macht kam, dass Einstein geboren wurde, dass es überhaupt Uran gibt, dass der Krieg in Midway stattfand. Und dann eben noch der Urlaub von dem Ehepaar und die Wolke. Wenn irgendwas davon anders gewesen wäre, dann wäre alles anders gelaufen.

Wir kennen das ja auch aus unserem eigenen Leben. Manchmal passieren Dinge, die uns total aus der Bahn werfen, die unsere Karriere verändern, unsere Beziehungen, unsere Sicht auf die Welt. Aber wir ignorieren oft die kleinen Dinge, die unsichtbaren Momente, die genauso wichtig sind, die wir aber gar nicht mitbekommen, weil wir unser anderes Leben gar nicht kennen.

Wenn so viele Menschen sterben oder leben können, wegen so 'nem Urlaub, was passiert dann in unserem Leben, was wir gar nicht merken? Kann es sein, dass wir 'ne wichtige Entscheidung verpassen, dass wir 'nen Ausfahrt verpassen und dass das nicht nur unser Leben verändert, sondern die ganze Geschichte? Und würden wir das überhaupt merken? Oder würden wir einfach blind sein, für die ganzen anderen Möglichkeiten?

Wir denken ja immer, dass wir die Vergangenheit verändern können, wenn wir in der Zeit zurückreisen. Aber wir denken nicht so über die Gegenwart nach. Wir passen nicht auf, dass wir bloß keinen Käfer zertreten. Wir haben keine Angst, dass wir die Zukunft verändern, wenn wir den Bus verpassen. Wir glauben, die kleinen Dinge sind nicht so wichtig, weil am Ende alles irgendwie wieder gut wird. Aber wenn jedes Detail der Vergangenheit unsere Gegenwart geformt hat, dann formt auch jeder Moment der Gegenwart unsere Zukunft.

Jorge Luis Borges hat mal 'ne Kurzgeschichte geschrieben, "Der Garten der Pfade, die sich verzweigen". Da geht's darum, dass wir Menschen durch so 'n Garten laufen, wo sich die Wege ständig verändern. Wir sehen ganz viele verschiedene Möglichkeiten, aber wir müssen uns trotzdem entscheiden, welchen Weg wir nehmen. Und wenn wir das tun, dann verändern sich die Wege wieder, neue Wege entstehen, andere verschwinden. Jeder Schritt ist wichtig.

Aber das Verrückte ist, dass unsere Wege nicht nur von uns bestimmt werden. Der Garten, in dem wir leben, der wurde von allen vor uns gepflegt und verändert. Die Wege, die uns offenstehen, die sind das Ergebnis von vergangenen Geschichten, von den Schritten, die andere gemacht haben. Und noch verrückter, es sind nicht nur unsere Schritte, die zählen, sondern auch die Entscheidungen von anderen Menschen, die wir gar nicht kennen. Die lenken uns ab, verändern unsere Richtung, durch die Details ihres Lebens, die wir gar nicht bemerken. So wie in Kyoto oder Kokura.

Aber wenn wir versuchen, die Welt zu erklären, dann ignorieren wir diese Zufälle. Wir tun so, als gäbe es nur einfache Ursachen und Wirkungen. X verursacht Y, und X ist immer 'n wichtiger Faktor, nie nur 'n kleiner Zufall. Alles kann man messen, in 'ne Grafik packen und kontrollieren. Wir glauben den Experten, die oft falschliegen, aber trotzdem immer selbstbewusst sind. Wir entscheiden uns lieber für 'ne einfache, aber falsche Antwort, als für 'ne komplizierte, aber vielleicht richtige. Aber vielleicht ist die Welt ja gar nicht so einfach. Können wir die Welt überhaupt verstehen, wenn so viel von Zufällen abhängt?

Am 15. Juni 1905 hat Clara Magdalen Jansen ihre vier Kinder getötet, in Wisconsin. Dann hat sie ihre Leichen gewaschen, in ihre Betten gelegt und sich selbst umgebracht. Ihr Mann Paul kam nach Hause und hat seine ganze Familie tot aufgefunden. Das muss furchtbar gewesen sein.

Es gibt da so 'n Konzept in der Philosophie, das heißt "Amor Fati", also die Liebe zum Schicksal. Wir müssen akzeptieren, dass unser Leben das Ergebnis von allem ist, was vorher passiert ist. Wir kennen vielleicht nicht alle unsere Urgroßeltern, aber wenn wir in den Spiegel schauen, dann sehen wir Teile von ihnen, ihre Augen, ihre Nase, ihre Lippen. Wenn wir jemanden kennenlernen, dann wissen wir, dass alle seine Vorfahren Kinder bekommen haben. Es ist 'n Klischee, aber es stimmt: Du wärst nicht hier, wenn deine Eltern sich nicht genau so kennengelernt hätten. Selbst wenn der Zeitpunkt nur 'n bisschen anders gewesen wäre, dann wärst du 'n anderer Mensch.

Und das gilt auch für deine Großeltern, deine Urgroßeltern, deine Urururgroßeltern, bis zurück in die Steinzeit. Dein Leben hängt davon ab, dass irgendwelche Menschen im Mittelalter sich verliebt haben, dass deine Vorfahren in der Eiszeit überlebt haben, dass irgendwelche Affen vor Millionen von Jahren sich gepaart haben. Wenn diese Kette von Lebewesen nicht überlebt hätte, dann gäbe es dich nicht. Wir sind die Überlebenden einer langen Kette, und wenn die nur minimal anders gewesen wäre, dann wären wir nicht hier.

Dieser Paul, der nach Hause kam, das war mein Urgroßvater, Paul F. Klaas. Mein zweiter Vorname ist Paul, wegen ihm. Ich bin nicht mit seiner ersten Frau Clara verwandt, weil die ihre Familie ausgelöscht hat. Paul hat dann nochmal geheiratet, meine Uroma.

Als ich zwanzig war, hat mein Vater mir 'nen Zeitungsausschnitt gezeigt, mit der Überschrift "Schreckliche Tat einer verrückten Frau". Und dann hat er mir die Geschichte erzählt. Er hat mir 'n Foto von dem Grabstein gezeigt, von der ganzen Familie, die Kinder auf der einen Seite, Clara auf der anderen, alle am gleichen Tag gestorben. Das war 'n Schock für mich. Aber was mich noch mehr geschockt hat, war die Erkenntnis, dass ich nicht existieren würde, wenn Clara sich nicht umgebracht hätte. Mein Leben ist nur möglich geworden, durch 'nen grausamen Massenmord. Diese vier Kinder sind gestorben, und jetzt lebe ich, und du liest meine Gedanken. Amor Fati bedeutet, diese Wahrheit zu akzeptieren, sie anzunehmen, zu erkennen, dass wir das Ergebnis einer manchmal wunderbaren, manchmal furchtbaren Vergangenheit sind. Wir verdanken unsere Existenz Freundlichkeit und Grausamkeit, Gut und Böse, Liebe und Hass. Anders geht es nicht, weil wir sonst nicht wir wären.

Richard Dawkins hat mal gesagt: "Wir werden sterben, und das macht uns zu Glücklichen. Die meisten Menschen werden nie sterben, weil sie nie geboren werden. Es gibt unendlich viele mögliche Menschen, die an meiner Stelle hätten sein können, aber die nie das Licht der Welt erblicken werden." Das sind die ungeborenen Geister, die Dawkins gemeint hat. Es gibt unendlich viele von ihnen, aber nur eine endliche Anzahl von uns. Wenn wir nur 'n bisschen was verändern, dann würden andere Menschen geboren, die anders leben würden, in einer anderen Welt. Unsere Existenz ist unglaublich zerbrechlich, gebaut auf 'nem wackeligen Fundament.

Warum tun wir so, als wäre das nicht so? Das widerspricht doch unserem Gefühl, wie die Welt funktioniert. Wir glauben, dass große Ereignisse große Ursachen haben, nicht kleine Zufälle. Als Sozialwissenschaftler habe ich gelernt, nach diesen großen Ursachen zu suchen. Vor ein paar Jahren war ich in Sambia, um zu erforschen, warum ein Putschversuch gescheitert ist. Lag es an der Stabilität des politischen Systems? Oder an der fehlenden Unterstützung in der Bevölkerung? Ich wollte die Wahrheit herausfinden.

Der Putsch war eigentlich ganz einfach geplant: Soldaten sollten den Armeechef entführen und zwingen, im Radio den Putsch zu verkünden. Dann würden die anderen Soldaten mitmachen, und die Regierung würde zusammenbrechen.

Aber als ich mit den Soldaten gesprochen habe, die den Armeechef entführen sollten, da ist meine Vorstellung von der Realität zusammengebrochen. Die Soldaten sind in sein Haus gerannt, der Armeechef ist aus dem Bett gesprungen, ist zur Hintertür rausgerannt und ist über die Mauer geklettert. Einer der Soldaten hat mir erzählt, dass er versucht hat, den General festzuhalten, er hat ihm an der Hose gezogen. Der General hat sich hochgezogen. Der Soldat hat versucht, ihn runterzuziehen. Und dann ist der Stoff der Hose durch die Finger des Soldaten gerutscht, und der General ist über die Mauer geklettert und abgehauen. In diesem Moment ist der Putsch gescheitert. Wenn der Soldat 'ne Millisekunde schneller gewesen wäre, wenn sein Griff 'n bisschen fester war, dann wäre die Regierung wahrscheinlich gestürzt worden. Die Demokratie hat überlebt, buchstäblich, an 'nem Faden.

George Bernard Shaw hat mal gesagt: "Manche Menschen sehen die Dinge, wie sie sind, und fragen: 'Warum?'. Ich träume von Dingen, die nie waren, und frage: 'Warum nicht?'" Wie sollen wir das verstehen, dass unsere Existenz von so vielen vergangenen Ereignissen abhängt, die auch anders hätten ausgehen können? Wie sollen wir uns selbst oder unsere Gesellschaft verstehen, wenn das Leben von einem Menschen vom Tod eines anderen abhängt, so wie bei mir, oder wenn die Demokratie am Faden einer Hose hängt? Wir können uns andere Welten vorstellen, aber wir haben nur eine Welt, die wir beobachten können. Wir wissen nicht, was passiert wäre, wenn kleine Dinge anders gewesen wären. Was wäre, wenn die Stimsons ihren Zug nach Kyoto verpasst hätten und stattdessen in Osaka Urlaub gemacht hätten? Was wäre, wenn das Flugzeug nach Kokura ein paar Minuten später gestartet wäre und die Wolken weg gewesen wären? Was wäre, wenn mein Uropa an dem Tag früher nach Hause gekommen wäre? Die Welt wäre anders. Aber wie?

Ich bin Sozialwissenschaftler, oder eher ein desillusionierter Sozialwissenschaftler. Ich hatte schon lange das Gefühl, dass die Welt nicht so funktioniert, wie wir es uns einreden. Je mehr ich mich mit der Komplexität der Realität auseinandergesetzt habe, desto mehr hatte ich den Verdacht, dass wir alle in 'ner bequemen Lüge leben, von den Geschichten, die wir uns selbst erzählen, bis zu den Mythen, mit denen wir Geschichte und sozialen Wandel erklären. Ich habe mich gefragt, ob die Geschichte der Menschheit nicht nur 'n endloser, aber vergeblicher Kampf ist, um Ordnung, Sicherheit und Rationalität in 'ne Welt zu bringen, die von Unordnung, Zufall und Chaos geprägt ist. Aber ich hatte auch 'n verlockenden Gedanken: dass wir in diesem Chaos 'nen neuen Sinn finden können, indem wir lernen, 'ne unordentliche, unsichere Realität zu feiern, indem wir akzeptieren, dass wir und alles um uns herum nur Zufälle sind, die von 'nem Universum ausgespuckt werden, das man nicht zähmen kann.

Das widerspricht allem, was ich gelernt habe, von der Sonntagsschule bis zum Studium. Alles hat seinen Grund, man muss ihn nur finden. Wenn man den sozialen Wandel verstehen will, dann muss man mehr Geschichtsbücher und sozialwissenschaftliche Arbeiten lesen. Um die Geschichte unserer Art zu lernen, muss man sich mit Biologie beschäftigen und Darwin kennenlernen. Um die Geheimnisse des Lebens zu ergründen, muss man sich mit Philosophie beschäftigen, oder wenn man gläubig ist, sich an die Religion wenden. Und wenn man die Mechanismen des Universums verstehen will, muss man Physik lernen.

Aber was, wenn diese großen Fragen alle Teil derselben großen Frage sind? Nämlich: Warum passieren die Dinge? Je mehr ich gelesen habe, desto mehr habe ich gemerkt, dass es keine einfachen Antworten gibt, die man einfach so aus der Politikwissenschaft, der Philosophie, der Wirtschaft, der Biologie, der Geologie, der Anthropologie, der Physik, der Psychologie oder der Neurowissenschaft herauspicken kann. Stattdessen habe ich erkannt, dass jedes dieser Gebiete 'n Teil des Puzzles bietet, der uns helfen kann, die Antwort zu finden. Die Herausforderung ist, diese Teile zusammenzufügen, um 'n neues Bild zu bekommen, das unser Verständnis von uns selbst und unserer Welt verändert.

Wenn genug Puzzleteile zusammenpassen, dann entsteht 'n neues Bild. Und dann haben wir vielleicht die Hoffnung, dass wir die bequemen Lügen, die wir uns erzählen, durch etwas ersetzen können, das der Wahrheit näher kommt, auch wenn wir dafür unsere ganze Weltanschauung auf den Kopf stellen müssen. Und das könnte für manche von euch etwas komisch sein, aber hey, wir leben eh in verrückten Zeiten, oder? Verschwörungstheorien, Pandemien, Wirtschaftskrisen, Klimawandel und dann noch diese künstliche Intelligenz, die alles verändert. Viele von uns fühlen sich verloren in 'nem Meer der Unsicherheit. Aber wenn wir uns dann an bequeme Lügen klammern, dann gehen wir nur unter. Die Wahrheit ist dann vielleicht doch die bessere Rettungsinsel.

Die Welt ist interessanter und komplexer, als wir denken. Wenn wir genauer hinschauen, dann sehen wir, dass die Welt nicht so ordentlich ist, wie wir immer glauben. Sondern viel mehr von Zufall und Chaos geprägt ist, 'ne Welt, in der jeder Moment zählt, egal wie klein er ist.

Ich will versuchen, die Lügen zu entlarven, die wir uns selbst erzählen und drei Aspekte der menschlichen Erfahrung zu untersuchen: wie unsere Art so geworden ist, wie sie ist, wie unser Leben ständig von zufälligen Ereignissen beeinflusst wird und warum wir die Dynamik der modernen Gesellschaft so oft missverstehen. Selbst die kleinsten Zufälle können wichtig sein. Hannah Arendt hat mal gesagt: "Die kleinste Tat unter den beschränktesten Umständen trägt den Keim der Grenzenlosigkeit in sich, denn eine Tat, und manchmal ein Wort, genügt, um jede Konstellation zu verändern."

Manche von euch werden jetzt vielleicht sagen: "Ja, aber wenn die Welt so chaotisch ist, warum gibt es dann so viel Ordnung in unserem Leben, in der Geschichte und im Universum?" Das stimmt schon, vieles ist stabil, durch Routinen und so. Vielleicht übertreibe ich ja auch, und die meisten Zufälle sind gar nicht so wichtig.

In der Evolutionsbiologie gibt es schon seit Jahrzehnten diese zwei verschiedenen Sichtweisen. Die einen sagen, das Leben folgt 'nem klaren Weg. Die anderen sind sich nicht so sicher und sagen, das Leben ist wie 'n Baum, der sich ständig verzweigt, durch Zufall und Chaos. Die Frage ist: Ist die Welt "konvergent" oder "kontingent"? Läuft die Evolution immer gleich ab, egal was passiert, oder können Zufälle die Evolution in andere Richtungen lenken? Und das hilft uns nicht nur, Darwin und die Schnäbel der Finken auf den Galapagosinseln zu verstehen, sondern auch, warum unser Leben so unerwartete Wendungen nimmt.

Stell dir vor, dein Leben ist wie 'n Film und du kannst zurückspulen bis gestern. Und dann veränderst du ein kleines Detail, zum Beispiel, ob du vor dem Losgehen noch 'n Kaffee getrunken hast. Wenn dein Tag trotzdem fast genauso verläuft, dann war das 'n "konvergentes" Ereignis. Das Detail war nicht so wichtig. Es ist passiert, was passieren musste. Aber wenn dein Tag total anders verläuft, weil du Kaffee getrunken hast, dann war das 'n "kontingentes" Ereignis, weil so viel von diesem kleinen Detail abhing.

Die Natur scheint zwischen Kontingenz und Konvergenz hin und her zu schwanken. Vor 66 Millionen Jahren ist 'n riesiger Asteroid auf die Erde gekracht, mit der Wucht von zehn Milliarden Hiroshima-Bomben. Der ist in Mexiko eingeschlagen, und da gab es viel Gips im Boden. Durch die Explosion ist giftiger Schwefel in die Atmosphäre gelangt. Und es wurde so viel Gestein hochgeschleudert, dass die Oberfläche der Erde sich auf 260 Grad erhitzt hat. Alles, was nicht unter der Erde war oder im Meer gelebt hat, ist verbrannt.

Wenn wir uns die Tiere heute anschauen, dann sehen wir die Nachkommen dieser Überlebenden, also von Tieren, die sich eingraben konnten.

Wenn wir ein Detail verändern, dann können wir uns 'ne ganz andere Welt vorstellen. Wenn der Asteroid 'n bisschen früher oder später eingeschlagen wäre, dann wäre er ins Meer gefallen, es wäre weniger giftiges Gas freigesetzt worden und weniger Arten wären gestorben. Wenn der Asteroid nur 'ne Minute später gekommen wäre, dann hätte er die Erde vielleicht verfehlt. Lisa Randall, 'ne Astrophysikerin, hat sogar gesagt, dass der Asteroid durch Schwankungen in der Umlaufbahn der Sonne aus dem Weltall zu uns gekommen ist. Ohne diese kleine Vibration im Weltall, wären die Dinosaurier vielleicht nicht ausgestorben, und es gäbe uns Menschen gar nicht. Das ist Kontingenz.

Aber jetzt schauen wir uns mal unsere Augen an. Wir haben superkomplexe Zellen in unserer Netzhaut, die uns helfen, Licht wahrzunehmen und Bilder zu sehen. Das ist wichtig für unser Überleben. Aber lange Zeit gab es keine Tiere mit Augen. Bis dann irgendwann 'ne zufällige Mutation 'n paar lichtempfindliche Zellen entstehen ließ. Diese Tiere konnten dann besser überleben, weil sie wussten, wo es hell und dunkel ist. Und dann haben sich immer bessere Augen entwickelt, durch 'ne Mutation im PAX6-Gen. Auf den ersten Blick scheint das 'n kontingentes Ereignis zu sein: Unsere Vorfahren hatten Glück. Und jetzt können wir Netflix gucken.

Aber als Forscher das Erbgut von ganz anderen Tieren untersucht haben, zum Beispiel von Tintenfischen, da haben sie was Interessantes entdeckt: Die Augen von Tintenfischen sind unseren Augen total ähnlich. Es hat sich herausgestellt, dass die Augen von Tintenfischen unabhängig von unseren Augen entstanden sind, aber durch 'ne ähnliche Mutation im PAX6-Gen. Der Blitz ist zweimal in dasselbe Gen eingeschlagen. Unsere Entwicklung und die Entwicklung von Tintenfischen haben sich vor 600 Millionen Jahren getrennt, aber wir haben am Ende fast die gleichen Augen bekommen. Das bedeutet nicht, dass Menschen und Tintenfische einfach nur Glück hatten. Sondern, dass die Natur manchmal die gleiche Lösung findet, wenn sie vor dem gleichen Problem steht. Zufälle gleichen sich manchmal aus. Wenn Tintenfischaugen und Menschenaugen am Ende fast dasselbe tun, dann sind kleine Veränderungen vielleicht doch nicht so wichtig. Kontingenz verändert vielleicht, wie die Entdeckung passiert, aber das Ergebnis ist ähnlich. Als ob man morgens die Schlummertaste drückt, das verzögert vielleicht die Reise, aber verändert nicht den Lebensweg.

Konvergenz ist die "alles hat seinen Grund"-Schule der Evolutionsbiologie. Kontingenz ist die "es passiert halt"-Theorie.

Das hilft uns, uns selbst zu verstehen. Wenn unser Leben von Kontingenzen bestimmt wird, dann spielen kleine Zufälle 'ne große Rolle bei allem, von unserer Karriere bis zu unserer Ehe und unseren Kindern. Aber wenn Konvergenz herrscht, dann sind Zufälle eher nur Kuriositäten, die unser Leben nicht so stark verändern. Dann könnten wir die Zufälle ignorieren.

Seit Jahrhunderten glaubt die Wissenschaft, dass Konvergenz wichtiger ist. Newton hat gesagt, seine Gesetze sind unumstößlich. Adam Smith hat von 'ner "unsichtbaren Hand" gesprochen, die unser Verhalten lenkt. Die Biologen waren anfangs gegen Darwins Theorien, weil sie zu viel Wert auf Zufall gelegt haben und zu wenig auf Ordnung. Unsicherheit wurde lange Zeit vermieden, verdrängt durch Theorien und Modelle, die alles erklären wollen. Kleine Veränderungen wurden als "Rauschen" abgetan, das man ignorieren soll. Sogar unsere Zitate sind voll von dieser Logik der Konvergenz: "Der Bogen des moralischen Universums ist lang, aber er beugt sich der Gerechtigkeit entgegen." Er beugt sich niemals zufällig.

Vor ein paar Jahrzehnten hat Motoo Kimura, so 'n Ketzer der Evolutionstheorie, das infrage gestellt und gesagt, dass kleine zufällige Veränderungen wichtiger sind, als wir denken. Als Kind in den 1920er Jahren war Kimura eigentlich nicht für 'n akademisches Leben bestimmt. Er hasste die Schule, weil da alles auf Konformität und Gehorsam aufgebaut war. Schüler, die neue Ideen ausprobiert haben, wurden bestraft. Wissen bedeutete Ordnung und Sicherheit, von oben herab vermittelt. Kimura war neugierig, aber seine Schule war kein Ort für 'n wissbegierigen Geist. 1937 hat ihn dann doch 'n Lehrer ermutigt. Kimura hat seine Leidenschaft entdeckt: die Botanik. Er wollte sein Leben damit verbringen, die Geheimnisse der Pflanzen zu lernen.

Dann, 1939, wurden Kimura und seine ganze Familie durch 'ne Lebensmittelvergiftung krank. Sein Bruder ist gestorben. Kimura war zu Hause und konnte keine Pflanzen studieren. Also hat er angefangen, über Mathematik, Vererbung und Chromosomen zu lesen. Seine Besessenheit von Pflanzen wurde zu 'ner Besessenheit davon, wie Veränderungen in unsere Gene geschrieben werden können. Kimuras Karriere hat sich durch 'n verdorbenes Essen verändert.

Als Evolutionsforscher hat sich Kimura die molekularen Bausteine des Lebens angeschaut. Je genauer er hingesehen hat, desto mehr hatte er den Verdacht, dass genetische Mutationen ohne viel Sinn und Verstand passieren. Viele waren weder gut noch schlecht. Stattdessen hat er entdeckt, dass sie oft zufällig und bedeutungslos waren, neutrale Veränderungen. Immer wenn 'ne Mutation passiert ist, haben Kimuras Vorgänger nach 'ner Erklärung gesucht, 'nem Grund, irgendwas, das Sinn macht. Kimura hat nur mit den Schultern gezuckt. Manche Dinge passieren ohne Grund. Manche Dinge sind einfach so.

Kimuras Entdeckungen haben die Evolutionsbiologie verändert und neue Erkenntnisse gebracht, die viele Generationen von Forschern beeinflusst haben. Aber seine Ideen sind noch größer. Kimuras Denken kann uns helfen, die Komplexität unserer Welt und die Zufälle darin besser zu verstehen. Vielleicht hat nicht alles seinen Grund. Und vielleicht können die kleinsten Veränderungen die größten Auswirkungen haben.

Kimura war auch selbst 'n Beispiel für seine eigenen Ideen, 'n lebendes Beispiel dafür, wie zufällige Veränderungen Kontingenz erzeugen können. 1944 ist Kimura zur Uni gegangen, um nicht in den Krieg ziehen zu müssen. Im August 1945 war er Student an der Universität Kyoto. Wenn Mr. und Mrs. H. L. Stimson ihren Zug 1926 verpasst hätten und stattdessen in Osaka Urlaub gemacht hätten, dann wären Motoo Kimura und seine Ideen wahrscheinlich in 'nem blendenden Licht der Atombombe ausgelöscht worden.

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